Janáčeks "Glagolitische Messe" hat eine äußerst verwickelte Genese und stellt ein kompliziertes Problem für einen Herausgeber dar. Nun ist eine verlässliche Edition im Rahmen der Gesamtausgabe erschienen.
1926 komponiert und im Dezember 1927 uraufgeführt, erschien die Partitur der Glagolitischen Messe erst 1929 nach dem Tod des Komponisten. Da inzwischen mehrere Versionen der Messe in Umlauf sind, muss er feststellen, welche der Fassungen gültig ist. Vor Kurzem erschien die Partitur einer sogenannten „Originalfassung“ mit der Bezeichnung „Erstfassung 1927“. Diese Partitur enthält jedoch keineswegs die Reinform eines zu diesem Zeitpunkt gegebenen Notentextes. Es handelt sich eher um eine Partitur, die aus dem „Interessantesten“ verschiedener zeitlicher Etappen des Werks zusammengesetzt ist. Obwohl sicherlich spielbar, ist sie aus editorischer Sicht nicht korrekt. Ihr Herausgeber ging von einigen ungenau interpretierten Quellen und unbegründeten Annahmen aus, die sich beispielsweise auf die angebliche Überforderung des Orchesters und auf technische Problemen bei der Einstudierung der ursprünglichen Gestalt des Werkes beziehen. Dabei gründet diese Argumentation auf einer einzigen Erinnerung, die der damalige Korrepetitor des Chores erst 40 Jahre später niederschrieb. Die Behauptung, dass der Teil „Úvod“ (Einleitung) mit seinen Septolen ebenso wie ein Fünfertakt im „Gospodi pomiluj“ (Herr, erbarme dich) während der Proben gestrichen wurden, ist strittig, da alles darauf hindeutet, dass diese Bearbeitungen erst nach der Uraufführung vorgenommen wurden. Auch irrt jender Herausgeber mit der Annahme, dass das zentrale Orchesterzwischenspiel im „Věruju“ (Ich glaube) vor der ersten Aufführung geändert wurde, angeblich deshalb, weil es nicht möglich gewesen sei, drei Gruppen von Pauken zu beschaffen. Die Änderungen im „Věruju“ wurden nachweislich erst nach der Uraufführung vorgenommen, denn es existieren Belege dafür, dass mehrere Sätze Pauken für die Uraufführung geliehen wurden. Zudem ist zu bedenken, dass der Komponist kaum in der Lage gewesen sein kann, während lediglich zwei Orchesterproben und einer Generalprobe die überaus große Zahl der Änderungen durchzuführen, die das Stück bis zur Druckvorlage erfuhr. Alles weist also darauf hin, dass der Komponist die Mehrheit der Änderungen erst nach dem Hören der Uraufführung im Dezember 1927 vornahm. Unbeantwortet bleibt die Frage, warum die am Schluss stehende Intrada bei der Premiere und vielen folgenden Konzerten auch am Anfang der Messe erklang. Diese Angabe hatte sich der der erste Dirigent der Glagolitischen Messe, Jaroslav Kvapil, in seine Partitur notiert. Auch wenn Janáček diesem Schritt zugestimmt haben muss, war er damit offensichtlich nicht zufrieden, denn er vermerkte diese Änderung weder in der Druckvorlage noch im Klavierauszug, der im April 1928 erschien, also noch zu Lebzeiten des Komponisten.
Die neue Ausgabe von Bärenreiter Praha gibt daher zwei Fassungen des Werkes wieder. Die erste ist die Fassung letzter Hand. Sie wurde vom Komponisten mit voller Verantwortung für den Druck vorbereitet, erschien jedoch erst nach Janáčeks Tod in Wien. Die zweite Partitur mit der sogenannten Fassung „September 1927“ ist die belegbare ursprüngliche Fassung ohne spätere, während der ersten Einstudierung oder danach durchgeführte Eingriffe. In dieser ersten Fassung der Messe vom September 1927 können wir verfolgen, mit welcher Sorgfalt und Konzentration Janáček alle Änderungen durchführte. Daher ist es sicher interessant, die Fassung „September 1927“, die in vielem stark von der finalen Version abweicht, zu hören; die Entscheidung, die Intrada am Anfang der Messe zu spielen, liegt heute beim Dirigenten (der Herausgeber neigt zur Lösung, den Teil „Úvod“ an den Anfang der Messe zu stellen). Die eigentlich gültige, für Aufführungen bestimmte bleibt jedoch die Fassung letzter Hand.
Jiří Zahrádka
(Übersetzung: Kerstin Lücker)