Felix Mendelssohn Bartholdys große Goethe-Kantate „Die erste Walpurgisnacht“ wurde vom Komponisten vielfach abgeändert. Die nun bei Bärenreiter erscheinende erste kritische Edition stellt eine verlässliche Grundlage für Aufführungen bereit.
Mendelssohns Die erste Walpurgisnacht auf einen Text von Goethe ist ein mit Mehrdeutigkeiten und Paradoxien befrachtetes Werk. Es ist ein Hauptwerk des Komponisten, das in keiner ernstzunehmenden Diskussion zu Mendelssohns Leben und Werk übersehen werden sollte. Trotzdem wurde das Stück bisher nie in einer quellenkritischen Ausgabe veröffentlicht. Die von Mendelssohn selbst sorgfältig betreuten Erstausgaben wurden durch andere ersetzt, die schleichend den Notentext des Werks korrumpierten.
Die Neuausgabe soll der Verbesserung dieser Situation dienen. Sie basiert auf der autorisierten Erstausgabe der Partitur. Darin sind die vielen Varianten verzeichnet, die im Lauf der Kompositionsgeschichte des Werks eingeführt wurden. Die Erstausgabe enthält ursprüngliche und andere frühe abweichende Lesarten von Passagen, die im Manuskript enthalten waren oder – in manchen Fällen – bei der Erstaufführung realisiert wurden, jedoch vor der Veröffentlichung der letztgültigen Fassung gestrichen oder erheblich abgewandelt wurden.
Wir kennen die Walpurgisnacht heute als nächtliches Gelage im Frühling, das auf der mehr oder weniger fantastischen Vorstellung eines Hexensabbats beruht. In Mythologie und Geschichte wird sie außerdem eng mit dem Gipfel des Brocken assoziiert, dem höchsten Berg des Harz. Heutige Konzertbesucher sind sich in der Regel nicht darüber im Klaren, dass jene Nacht für Goethe, Mendelssohn und deren Zeitgenossen eine vorgegebene Feier war, die an Jahrhunderte des Unfriedens, der Konflikte, der Mysterien und der Gewalt gemahnte. Im Wesentlichen ging es um religiöse Intoleranz und die düsteren Grenzen zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen, die Grenzen zwischen Gewissheiten und dem, was wir nicht wissen können.
Die Entstehungsgeschichte von Mendelssohns Kantate lässt sich im Wesentlichen in zwei Zeitabschnitte untergliedern. Der erste umfasste die Jahre 1830 bis 1833 und brachte eine vollständige Vertonung hervor, die unter der Leitung des Komponisten mit Erfolg in Berlin uraufgeführt wurde und zunächst für die Veröffentlichung vorgesehen war, aber letztlich doch nicht publiziert wurde. Im Lauf der späteren 1830er-Jahre wurde Mendelssohn immer unzufriedener mit dieser Vertonung, und nach 1840 revidierte er das Werk erneut. Die Revisionen entwickelten ein Eigenleben, da sie um so mehr ausuferten, je mehr Aufmerksamkeit der Komponist dem Projekt widmete. In der Folge wurden die Überarbeitungen, welche die revidierte Fassung vor der Premiere im Februar 1843 erfahren hatte, noch weiter ausgedehnt, als der Druck des Klavierauszugs in Vorbereitung war. Zwischen der Veröffentlichung des Klavierauszugs Ende 1843 und dem Druck der Partitur im Frühjahr 1844 kamen noch weitere substanzielle Änderungen hinzu.
Die Neuausgabe bietet erstmals eine quellenkritische Edition dieser revidierten Fassung. In dieser Form wurde das Werk unter Mendelssohns Leitung am 2. Februar 1843 aufgeführt. Das Konzertprogramm enthielt neben den Namen der Solisten erklärende Bemerkungen in Anführungszeichen und Klammern, die deutlich auf Goethes Zusammenfassung von 1812 verweisen, die in der deutschen Reiseliteratur am Ende des 18. Jahrhunderts verbreitet war:
„(In den letzten Zeiten des Heidenthums in Deutschland, wurden von den Christen die Opfer der Druiden bei Todesstrafe untersagt. Trotz dem suchten die Druiden und das Volk zu Anfang des Frühlings die Höhen der Berge zu gewinnen, dort ihre Opfer zu bringen, und die christlichen Krieger (gewöhnlich durch deren Furcht vor dem Teufel) einzuschüchtern und zu verjagen. Auf solche Versuche soll sich die Sage von der ersten Walpurgisnacht gründen.)“
Es wird niemanden, der Mendelssohns selbstkritische Haltung kennt und seinen Hang, viele bedeutende Kompositionen zurückzuhalten, verwundern, dass auch Die erste Walpurgisnacht zwischen der Erstaufführung und der Veröffentlichung zahlreiche Revisionen erfuhr. Überraschender hingegen ist es, dass der Komponist in der veröffentlichten Partitur die Einleitung durch einen Ausschnitt aus einem Brief Goethes vom 9. September 1831 ersetzte. Hierdurch schwächte er das literarisch-historische Subjekt des Werkes ab zugunsten eines übergeordneten Symbolismus. In der neuen Einleitung heißt es:
„Denn es muß sich in der Weltgeschichte immfort wiederholden, daß ein Altes, Gegründetes, Geprüftes, Beruhigendes durch auftauchende Neuerungen gedrängt, geschoben, verrückt und, wo nicht vertilgt, doch in den engsten Raum eingepfercht werde. Die Mittelzeit, wo der Haß noch gegenwirken kann und mag, ist hier prägnant genug dargestellt, und ein freudiger unzerstörbarer Enthusiasmus lodert noch einmal in Glanz und Klarheit hinauf. Diesem allen hast du gewiß Leben und Bedeutung verliehen und so möge es denn auch mir zu freudigem Genuß gedeihen.“
John Michael Cooper
(Übersetzung: Kilian Eckle)
aus [t]akte 2/2010