Michaël Levinas‘ vierte Oper Der kleine Prinz wird momentan mit viel Erfolg in Lausanne, Genf, Lille und Paris gespielt, und die Kritik ist des Lobes voll über die (zu Beginn etwas gewagte) Adaption von Antoine de Saint-Exupérys gleichnamigem Meisterwerk. Das wird niemanden überraschen, der sich lange genug mit der Musik dieses sensiblen Komponisten beschäftigt hat. Mit 66 Jahren schaut Levinas auf eine lange, dreifache Karriere zurück: Er ist nicht nur Komponist (und Ehrenvorsitzender des Ensembles L’Itinéraire, das er zusammen mit Gérard Grisey und Tristan Murail gründete und dem sich später Hugues Dufourt anschloss), sondern auch ein überragender Pianist, der für seine Einspielungen der gesamten Sonaten von Beethoven bzw. Skrjabin sowie des Wohltemperierten Klaviers einmütig gefeiert wurde; und als Professor für Musikalische Analyse am Pariser Conservatoire national supérieur de musique et de danse unterrichtete er Hunderte von Studenten in der Kunst, die vielen Facetten der Musik zu beschreiben. Seine künstlerische Entwicklung manifestierte sich in ganz persönlichen Auffassungen: Klangfarbe als einer musikalischen Idee untrennbar verbundenes Element; der narrative Aspekt musikalischer Formen; die Phänomene der Klangmischungen; die enge Verbindung zwischen Musik, Stimme und Atem.
Michaël Levinas ist ein erfahrener Komponist, Musiker und Denker, und sein Werk – sei es Kammer-, Orchester- oder Vokalmusik – verdient es, dass man sich damit erschöpfend auseinandersetzt. So selbstverständlich ist das gar nicht, denn Levinas verfolgte immer einen von den Strömungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unabhängigen Weg. Als Vertreter der Spektralmusik geht es ihm nicht um – nach seinen Worten – „Klang um des Klanges willen“, sondern um eine Suche, um „Unbestimmtheit, Mehrdeutigkeit, Vorschläge, als ob es ein Jenseits des Klangs, der sich selbst genügt, geben würde“. Dieses „Jenseits“ ist nicht im Bereich von Geräuschen oder in Strömungen, die mit solchen arbeiten, zu suchen – weit entfernt. Es zeigt sich vielmehr in Klängen, die Levinas zum Beispiel mittels barocker Verzierungen erzeugt, etwa in seinem Werk Se Briser, in dem durch eine harmonische Verzögerung eine „Brechung“ entsteht, ein Zerlegen eines Akkords in einzelne, nacheinander zu hörende Teile, sowie in dem wunderbaren Orgelstück Accords tremblés. Dieses „Jenseits“ ist bei Levinas aber auch dort zu finden, wo Klang in Bewegung gerät, wo dieser Drehbewegungen ausdrückt, wie in Spirales d’oiseaux, Strettes tournantes-migrations sowie in der Arie der „Sœur tournante“ in seiner neueren Oper La Métamorphose.
Levinas‘ Neigung zur Literaturoper fand ihren Ausdruck in der Vertonung von Werken von Nikolai Gogol (Go-Gol, 1996), Jean Genet (Les Nègres, 2004) und Franz Kafka (La Métamorphose, 2011). Vor diesen Opern entstand La Conférence des oiseaux, ein ergreifendes Bühnenwerk von 55 Minuten nach einem Versepos des persischen Dichters Attar. Es sieht zwei die Vögel darstellende Sänger-Schauspieler, einen Sprecher und Instrumentalensemble vor. „Ein Wiedehopf (und fanatischer Priester) beruft alle Vögel der Welt ein und fordert sie auf, ihre bequemen Gewohnheiten, ihr Leben in der Luft und auf Erden aufzugeben, um auf die Suche nach dem Simurgh zu gehen: nach der Gottheit, dem Absoluten, dem Jenseits. Es ist der letzte Weg auf der Suche nach dem Endgültigen, ein Opfergang.“
Die Handlung der Oper Go-Gol, die Levinas zum Andenken an seinen Vater, den Philosophen Emmanuel Levinas, schuf, basiert auf Gogols Der Mantel. Der Titel weist auf die Art und Weise hin, wie Levinas – in dieser, aber auch in anderen Opern – an die französische Sprache herangeht, an ihre Prosodie, aber vielleicht auch überhaupt an die Musik: nicht destruktiv-konstruktiv, sondern durch ein Eindringen in den Bereich der Sprache, um daraus Töne, Musik, Klangfarben und Tonlagen zu gewinnen. Und darin liegt zweifellos die Stärke von Levinas‘ Musik für die Bühne: Das Libretto ist nicht Vorgabe, sondern es ist selbst das Material der Musik. „Prima le parole? Prima la musica?“ Die Antwort darauf gibt Levinas mit seinem gesamten Werk: Für ihn ist das Eine und das Andere ein und dieselbe Sache.
Benoît Walther
(aus [t]akte 1/2015 – Übersetzung: Irene Weber-Froboese)