Beklemmende Parabel
Édouard Lalos Oper „Fiesque” nach Schiller endlich auf der Bühne
140 Jahre musste Édouard Lalos Oper „Fiesque“ warten, ehe sie 2006 konzertant in Montpellier und endlich am 16. Juni 2007 auch szenisch im Nationaltheater Mannheim uraufgeführt wurde. Zwischen Nummernoper und durchkomponierter Form stehend, hat das Werk Qualitäten, die es auch heute interessant machen – wie Jens-Daniel Herzogs Mannheimer Inszenierung zeigt.
Held mit politischer Brisanz
Lalo hat die Partitur von Fiesque 1867 für einen Kompositionswettbewerb des Pariser Théâtre Lyrique eingereicht, blieb dort aber erfolglos. Nach vergeblichen Versuchen, die Oper in Paris und Brüssel zur Uraufführung zu bringen, ließ er 1872 den Klavierauszug auf eigene Kosten drucken. Später hat er die Musik als Steinbruch für andere Werke, vor allem für seine Symphonie g-Moll (1886), benutzt.
Was mag Lalo, der neben César Franck und Camille Saint-Saëns zu den führenden französischen Instrumentalkomponisten des 19. Jahrhunderts gehört, bewogen haben, ausgerechnet Schillers republikanisches Trauerspiel Die Verschwörung des Fiesco zu Genua zu vertonen? Das zwischen den Räubern und Kabale und Liebe entstandene Schauspiel des jungen Schiller wird selten aufgeführt und selbst von der Schiller-Forschung eher verlegen zur Kenntnis genommen. Im Zentrum der 1547 in Genua spielenden Handlung steht der junge Graf Fiesco, der als Haupt einer Verschwörung die Herrschaft der Dorias stürzt, aber noch in der Nacht des erfolgreichen Putsches durch einen unglücklichen Zufall zu Grunde geht. Schillers Bearbeitung, die frei mit der historischen Überlieferung umspringt, macht aus Fiesco einen psychologisch zwar komplexen, aber nichtsdestoweniger politischen Helden, der die republikanische Verschwörung funktionalisiert, um selbst als Alleinherrscher die Nachfolge des gestürzten Doria anzutreten und daraufhin von dem mitverschworenen Verrina ertränkt wird. Der Stoff – „ein Drama über einen großen Helden, der keine positive Identifikation ermöglicht” (so die Literaturwissenschaftlerin Nikola Rossbach) – besaß im Frankreich des zweiten Kaiserreichs durch seine Analogie zum politischen Werdegang Napoleons III. eine gewisse Brisanz.
Lalo und sein Librettist Charles Beauquier haben bei ihrer Bearbeitung Schillers Vorlage nicht nur verknappt, sondern gleichzeitig deren Dramaturgie entscheidend verändert. Zum einen, indem sie dem Chor prominente Aufgaben zuwiesen und damit die Masse des Volkes als Handlungsträger ins Spiel brachten. Zum andern, indem sie den bei Schiller zwischen Politik und Gefühl schwankenden Fiesque als reinen Opportunisten und prinzipienlosen Lebemann zeigen. Fiesque – so Jens-Daniel Herzog, der Regisseur der Mannheimer Uraufführung – „vertritt keine politische Utopie, er ist ein Schauspieler, dem es vor allem auf ein perfektes Auftreten ankommt.”
Beide Änderungen sind der musikdramatischen Form der Grand Opéra geschuldet, die sich – wie nicht zuletzt Giacomo Meyerbeers L’Africaine (1865) und Giuseppe Verdis für Paris komponierter Don Carlos (1867) zeigen – zu diesem Zeitpunkt bereits im Endstadium der Auflösung befand. Fiesque als haltlos seinen Egoismen sich überlassender Schwächling – dieses negative Menschenbild, das vor allem Lalos Musik mit ihrem dominierenden Zug des Lyrismus hervorkehrt – ist entscheidend vom dramaturgischen Paradigmawechsel des „psychisch irrationalen Charakters“ (Jürgen Schläder) beeinflusst, wie Lalo ihn in der Erfolgsoper der 1860er-Jahre, Charles Gounods Faust (1859), vorfand und wie ihn in den beiden folgenden Jahrzehnten dann vor allem Massenet weiterentwickeln sollte.
Ein Werk des Übergangs
Ein Blick in die Partitur zeigt, dass Lalos Musik zwar noch an den traditionellen, in sich abgeschlossenen Formen festhält, mit ihrer Leitrhythmik und ihren wiederkehrenden Motiven aber gleichzeitig schon eine starke Tendenz zur Durchkomposition besitzt. Die Hauptfiguren – neben dem Titelhelden die beiden Frauen Léonore und Julie, der prinzipienfeste Repu-blikaner Verrina und der in der Oper wie ein abgebrühter Geschäftsmann als „Händler des Todes“ (Herzog) agierende Mohr Hassan – sind musikalisch sicher umrissen, allerdings kaum mit effektvoller Melodik bedacht, worin wahrscheinlich der Grund für das zeitgenössische Desinteresse an Lalos Vertonung zu suchen sein dürfte.
Reichhaltig – und darin über die Zeitgenossen Gounod oder Ambroise Thomas hinausgehend – hat Lalo vor allem das großbesetzte Orchester bedacht. Auch in der Harmonik macht sich bemerkbar, dass Lalo als Instrumentalkomponist sich intensiv mit der deutschen Kammermusik auseinandergesetzt hat und schon zu diesem frühen Zeitpunkt zumindest der mittlere Wagner offensichtlich kein Unbekannter für ihn war. Jürgen Schläder hat in einem im Mannheimer Programm abgedruckten Essay zu Recht betont, dass dem Orchester dennoch nicht die Funktion eines psychologischen Vermittlers, gar Kommentators der grellen Widersprüche in Fiesques Charakter zukommt: „Die Intentionen der Theaterfigur und ihr musikalisches Profil fallen auseinander.
Ein Plädoyer für die Stärken des Stücks
Alexander Kalajdzic, der Dirigent der Mannheimer Aufführung, ist mit diesem Widerspruch erstaunlich souverän umgegangen. Er gab dem Orchesterpart ein deutlich herausmodelliertes Eigenprofil, wahrte andererseits aber stets die Balance zur Bühne und zum Gesang, den er an keiner Stelle zudeckte. Überhaupt war die Aufführung szenisch wie sängerisch ein eindrucksvolles Plädoyer für die Stärken des Stücks. Francesco Petrozzi bewältigte die Partie des negativen Titelhelden mit großer spielerischer Präsenz. Rollendeckend Theodor Carlson als aufrechter Verrina und Thomas Beraus Hassan als windiger Ökonom des Todes; überragend die dramatische Präsenz der beiden diametralen Frauenfiguren – Galina Shesterneva als Fiesques Gattin Léonore und Andrea Szántó als Julie –, die beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, vergeblich die Liebe des ausschließlich in die Herrschsucht verliebten Fiesque zu erringen suchen.
Virtuoses Theaterspiel auf der Mannheimer Bühne
Entscheidend zum Erfolg der Aufführung trug die Inszenierung des ehemaligen Mannheimer Schauspieldirektors Jens-Daniel Herzog bei. Er hat sich von Mathias Neidhardt eine Einheitsbühne bauen lassen, die die Handlung in die triste Atmosphäre eines modernen Machtzentrums versetzt. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich Fiesques verschwörerisches Doppelspiel, zu dem auch die Liebe als Maske gehört, als virtuoses Theaterspiel – eine metaphorische Ebene, die sich schon bei Schiller findet. Herzog hat sie überzeugend aufgegriffen und zum Schlüssel seiner Personenführung gemacht. Einzig Léonore gesteht er, im Einklang mit Lalos Musik, Momente von echter Emotionalität zu, während bei den übrigen Mitspielern – auch bei der koketten Julie – Maske und Rolle die personale Identität längst verdrängt haben. Nicht zuletzt diese Sicht aber machte den Abend zur beklemmend aktuellen Parabel.
Uwe Schweikert
(aus takte 2/2007 – Photos: Hans-Jörg Michel)