Die Quellenlage von Georges Bizets Oper Les Pêcheurs de perles ist heikel, da das Autograph nicht zugänglich ist. Hugh Macdonald hat dennoch eine Neuedition unternommen, für die eine Violin-Direktionspartitur wichtige Aufschlüsse bot.
Es ist bekannt, dass bei allen Opern Georges Bizets der Versuch unternommen wurde, sie nach seinem Tod zu „verbessern”, wobei die meisten der veröffentlichten Partituren nicht Bizets Originaltexte wiedergeben. Im Falle der Perlenfischer gibt lediglich die Erstausgabe des Klavierauszuges, erschienen 1863 bei Choudens, die Komposition der Oper so wieder, wie Bizet sie geschrieben hat. Alle späteren Klavierauszüge weisen einen stark revidierten Notentext auf. Die Partitur wurde 1886 von Choudens gedruckt und für die zweite Auflage 1893 nochmals revidiert, doch beide Partituren präsentieren die Oper in stark bearbeiteten Fassungen. Folglich liegt keine Orchestrierung Bizets jener Abschnitte der Oper vor, die in der Partitur von Choudens fehlen.
Unter diesen Umständen könnte eine korrekte Partitur der Oper normalerweise nur auf der Basis des Autographs herausgegeben werden. Bei den Perlenfischern aber liegt die Schwierigkeit darin, dass sich das Autograph in Privatbesitz befindet und es sehr unwahrscheinlich ist, dass es in den kommenden Jahren der Forschung zugänglich sein wird. In früheren Versuchen, einen kompletten Notentext bereitzustellen, erfolgte eine Neuorchestrierung der fehlenden Abschnitte auf Basis von Bizets Klavierauszug, was sicher eine akzeptable Lösung darstellt. Eine weitaus präzisere Annäherung an Bizets Vertonung kann jedoch durch Berücksichtigung eines Manuskripts erzielt werden, welches sich in der Bibliothèque-Musée de l’Opéra in Paris befindet und auf die ersten Aufführungen der Oper am Théâtre Lyrique im Jahr 1863 zurückgeht. Es handelt sich hierbei um eine Violin-Direktionspartitur (Violon-Conducteur), die vom Dirigenten im Theater genutzt wurde: ein Auszug auf sechs Notensystemen mit den zentralen Bläser- und Streichereinsätzen sowie wichtigen Angaben zur Orchestrierung, die im Klavierauszug nicht spezifiziert sind. Zusätzlich enthält diese Violin-Direktionspartitur Passagen, die herausgenommen wurden, bevor der Klavierauszug im Druck erschien.
Die neue Bärenreiter-Ausgabe präsentiert die Oper in der Form, wie Bizet sie vertont hat, wobei bestimmte Abschnitte des Werkes von mir auf Basis des Klavierauszuges und der Violin-Direktionspartitur neu orchestriert wurden. Die wichtigsten Abschnitte sind:
1. das Ende der Eröffnungsszene, in der traditionellerweise das Duett Nadir/Zurga „Oui, c’est elle, c’est la déesse” anstelle von Bizets Originalfassung wiederholt wird, in der das Duett nur eine Reaktion auf den flüchtigen, Liebesqual auslösenden Blick des schönen Mädchens war, dem die beiden männlichen Protagonisten abgeschworen haben.
2. zwei Abschnitte im Duett Leila/Zurga in Akt III, Bild 1
3. ein Teil des Chœur dansé „Dès que le soleil” im 2. Bild von Akt III.
4. das originale Finale der Oper.
Die Neuausgabe präsentiert in einem Anhang auch den Text der gesprochenen Dialoge, die vor den Aufführungen von 1863 durch Rezitative ersetzt wurden, sowie Abschnitte aus der Violin-Direktionspartitur, die vor diesen Aufführungen gestrichen wurden und bis heute unveröffentlicht blieben.
Die nicht authentischen, erst nach Bizets Tod veröffentlichten Abschnitte der Oper sind in einem weiteren Anhang publiziert. Sie enthalten ein Trio, das von Benjamin Godard komponiert wurde, und die zwei unterschiedlichen Finalszenen, die in den beiden Auflagen der Choudens-Partituren veröffentlicht sind. Keines dieser Finali ist von der Hand Bizets.
In einem weiteren Anhang findet sich eine Neuedition der Paukenstimme. Obwohl Bizet meisterhaft zu instrumentieren verstand, machte er sich bekanntlich keine Gedanken über die Stimmung der Pauken, die seinen Paukisten zur Verfügung standen. Der Klavierauszug zeigt, dass er oft eine andere Stimmung vorsah als die zu seiner Zeit übliche und es daher zu zahlreichen Konflikten mit der vorherrschenden Harmonik kommt.
Um die Nutzung von drei modernen, stimmbaren Pauken zu ermöglichen, hat der Herausgeber die Paukenstimme entsprechend den heutigen Usancen umgeschrieben. Überdies ist eine singbare englische Übersetzung in Partitur und Klavierauszug der neuen Ausgabe enthalten.
Mit der Bärenreiter-Neuedition von Les Pêcheurs de perles können nun Dirigenten und Regisseure eine Aufführung von Bizets frühem Meisterwerk realisieren, die sich so weit wie möglich an allen derzeit verfügbaren Quellen orientiert.
Hugh Macdonald
(Übersetzung: Ulrich Etscheit)
(aus [t]akte 1/2014)