Leoš Janáčeks Künstleroper Osud (Schicksal), die der Komponist zu Lebzeiten nicht auf der Bühne erleben konnte, kehrt an den Ort ihrer deutschen Erstaufführung zurück. Im Oktober 1958 wurde das Werk mit einem Tag Abstand in Brünn und in Stuttgart erstaufgeführt. Die Edition im Rahmen der Janáček-Gesamtausgabe wird nun zur Grundlage für die Interpretation des Stuttgarter Staatstheaters: Sylvain Cambreling dirigiert die Produktion, in der erstmals die kritische Neuedtion der Gesamtausgabe verwendet wird, in der Regie von Jossi Wieler und Sergio Morabito, die am 11. März 2012 Premiere feiert und dann in dieser Spielzeit noch sieben Mal auf dem Spielplan steht.
Janáčeks Musikdrama Osud entstand 1904/05 nach Vollendung von Jenůfa und ist in mehrfacher Hinsicht ihre Ergänzung, ein urbanes Gegenstück. Die Oper zeigt Szenen eines Künstlerlebens, Protagonist ist der Komponist Živný, der zu Beginn seine frühere Geliebte Míla in einem Kurort wieder trifft. Das Paar findet erneut zusammen und lebt fortan mit dem gemeinsamen Sohn. Vier Jahre später kommt es zur Katastrophe, als Mílas Mutter, die einst die Verbindung hintertrieben hatte, die Tochter im Wahnsinn mit in den Tod reißt. Nach vielen Jahren soll endlich Živnýs Oper, die von der tragischen Verbindung erzählt, uraufgeführt werden. Im Konservatorium erläutert er sie seinen Studenten. In einer dramatisch eskalierenden Erzählung wird deutlich, dass die Fiktion auf der eigenen Geschichte beruht. Ein Gespräch mit Sergio Morabito, Ko-Regisseur und Chefdramaturg in Stuttgart, über die Arbeit an der Neuinterpretation.
[t]akte: Leoš Janáčeks Schicksal hat eine Stuttgarter Geschichte: Einen Tag nach der Uraufführung in Brünn wurde die Oper hier erstaufgeführt. Hat dieser Umstand zu der Entscheidung beigetragen, das Stück nun zu spielen?
Sergio Morabito: Ein Ausgangspunkt war die Suche nach einer Ergänzung zu Schönbergs Die glückliche Hand, bei der wir auf Janáčeks Oper stießen. Beide Stücke galten lange als unspielbar und haben als Künstlerdramen mehrere Gemeinsamkeiten. Osud ist ein Werk aus Janáčeks Krisenzeit nach der Entstehung und glücklosen Uraufführung der Jenůfa, einer schwierigen Zeit für ihn. Als mit deren Wiener Aufführung 1916 der internationale Durchbruch kam und in der Schaffenseuphorie der folgenden Jahre geriet das Stück in Vergessenheit. Zudem schreckten ihn Berater, allen voran Max Brod, mit der Einschätzung ab, das Stück sei nicht zu retten.
Interessant ist, dass in der Verbindung beider Werke zwei unterschiedliche Traditionslinien aufeinandertreffen, die sich beide von Strindberg her schreiben: einmal das symbolistische Mysterienspiel, das Stationendrama, das Schönberg stark geprägt hat, der sich sogar von Strindberg ein Libretto zur Jakobsleiter schreiben lassen wollte. Die andere knüpft an Strindbergs naturalistische Dramen wie Totentanz, Der Vater oder Fräulein Julie an, zu denen Janáčeks Oper starke Bezüge aufweist, etwa in der im zweiten Akt geschilderten Familienhölle. In diesem Krieg zwischen Živný und seiner Schwiegermutter wird das Leben des anderen in Frage gestellt und schließlich zerstört. Die wechselseitigen wahnsinnigen Schuldzuweisungen führen zu dem tragischen Ende, wenn die Mutter die Tochter mit in den Tod reißt, um den Mitgiftjäger, als den sie Schwiegersohn bezeichnet, zu bestrafen. In der klaustrophoben „Ehe- und Familienfalle“ des 2. Aktes spürt man stark diese Nähe zu Strindberg, die das Stück so spannend macht. Und man versteht nicht, warum Janáčeks Oper immer wieder mit negativen Wertungen versehen wird, die sagen, dass sie an einer abstrusen Handlung laboriere. Dabei findet man all das in der damals zeitgenössischen Dramatik: die Konflikte zwischen Künstler und bürgerlicher Welt, die Standeskonflikte, den Geschlechterkampf. Es ist seltsam, dass bei einer Oper so sehr nach konventionellen dramaturgischen Erzählmustern verlangt wird. Dabei spüren wir nun bei der Arbeit ganz stark, wie stringent das Werk gearbeitet ist. Es begeistert uns, wie virtuos Janáček eine szenische Form für sein komplexes Material findet. Das ist ganz außerordentlich.
Ein Teil des Verdikts betrifft auch das Libretto, das Janáček entscheidend konzipiert hat. Er hat eine junge Lehrerin gebeten, für sein Szenarium Dialoge zu schreiben. Herausgekommen ist dabei eine sehr manierierte Sprache. Wir merken jedoch, dass diese Sprache in all ihrer Blumigkeit und Künstlichkeit sehr genau in ihren Metaphern ist, und es lohnt, sie zu durchleuchten und ihr nachzuhorchen. Das Werk ist als Gesamtentwurf in sich absolut gültig und stringent. Ich glaube, dass wir heute an einem ganz anderen Punkt der Rezeption sind und andere theatralische Kriterien und Möglichkeit in ihm entdecken können als etwa ein Max Brod, der ja dann auch andere Opern von Janáček nicht nur übersetzt, sondern dabei gleichzeitig immer auch bearbeitet, geglättet, harmonisiert hat. Es gab kaum ein Werk von Janáček, das wirklich so auf die Bühne kam, wie er es geschrieben hat, auch die Sing- und Orchesterstimmen wurden – teilweise eingreifend – retouchiert. Insofern ist Osud ein extremer, jedoch kein singulärer Fall.
Nachdem es nicht zu einer Aufführung zu Lebzeiten kam, gibt es keine Fassung letzter Hand. Die posthum gespielten Versionen schließen viele Stadien der Revision ein. Die Neuausgabe stellt nun die vollendete Fassung von 1907 wieder her, wo spätere Retuschen und Korrekturen von eigener und fremder Hand entfernt wurden.
Erstmals sind viele Dinge dokumentiert, die für eine Realisierung entscheidend wichtig sind. So sind zum Beispiel erstmals auch die Regieanweisungen korrekt übersetzt. Ein extremes Beispiel findet sich gleich im ersten Akt bei der Wiederbegegnung von Živný und Míla: Zum ersten Mal wird deutlich, dass es Míla ist, die diese Begegnung provoziert. In allen Fassungen, die im Umlauf sind, wird es so erzählt, dass sie dieser Begegnung auszuweichen versucht. Míla hat rote Rosen geschenkt bekommen, die sie an den demütigenden Moment erinnern, wo sie in Prag eine Premiere von Živný besuchte, als sie schon schwanger war und von ihm ignoriert wurde. Sie hat die Stärke, diese Begegnung zu wiederholen und ein zweites Mal mit den roten Rosen in de Hand auf ihn zuzugehen. Das ist es, was zum Wiederaufflammen der Leidenschaft und letztlich zur Entscheidung führt, gegen alle Widerstände zusammenzuleben und zu heiraten. Das ist kein unwichtiges Detail, sondern die Exposition des Stückes und seiner Figuren. Das war natürlich für uns sehr überraschend. Jetzt weiß man, was Janáček tatsächlich geschrieben hat, man tappt nicht mehr im Dunkeln und gewinnt dadurch den legitimen interpretatorischen Spielraum.
Bei den Erstaufführungen des Werkes 1958 wurde Osud sowohl in Brünn als auch Stuttgart in Bearbeitungen von Václav Nosek und Kurt Honolka gespielt, in der die Handlung durch einen Teil des 3. Aktes eröffnet wird, der in der Gegenwart spielt. Mit dieser Umstellung wurde die Geschichte gleichsam aus der Rückblende erzählt, also die ursprüngliche Dramaturgie mit ihren vielfältigen Bezügen, Steigerungen und Verflechtungen von Handlungselementen aufgehoben. Die originale Anordnung der Szenen wurde erstmals 1984 auf die Bühne gebracht. Wie ist Euer Blick auf diese offene, experimentelle Form des Werks?
Gerade Janáčeks Entscheidung, die Geschichte in drei versprengten Szenen zu erzählen, die schlaglichtartig einen Zeitraum von 15 Jahren durchleuchten, macht das Stück so spannend. Es gibt nicht eine gesicherte Zeitebene, von der aus wir zurückschauen. Janáček versucht ja, eine Form für die Tragik eines ganzen Lebens finden. Erzähle ich dies aus dem Rückblick, so erkläre ich Živný als Hauptfigur zum Autor der Oper und zum Kommentator der eigenen Biografie. Dadurch würde das Werk zur Lebensbeichte. Dabei ist klar, dass Janáček ganz viel von sich, von seinen Ängsten wie in ein Vexierbild in die Figur des Živný hineingeschrieben hat, der sich wiederum in Lensky, dem Komponisten seiner fiktiven Oper, spiegelt. Das Interessante ist, dass in der Oper nur sehr mittelbar die künstlerische Arbeit Živnýs verhandelt wird, die wir letztlich nicht beurteilen können. Das Urteil über Živnýs künstlerisches Schaffen bleibt Spekulation, wir wissen nicht, wie genialisch oder wie gescheitert er ist. Das interessiert das Stück nicht primär, sondern es geht um sein Scheitern als Mensch. Man könnte durchaus die These aufstellen, dass Živný ein begnadeter Künstler ist, der den Mut hat, zum Befremden der Fachwelt darauf zu bestehen, sein Werk als Fragment aufzuführen, was für Janáčeks Zeiten ja ein revolutionärer Gedanke ist. Živný bezeichnet seine Oper als vollendet, aber ohne den letzten Akt, dieser sei in Gottes Hand.
Der dramaturgische Kniff, eine fiktive Musik zu zitieren, scheint Janáček spezifischen Wohlklang zu ermöglichen, eine weniger schroffe, fast Puccini-nahe Musik in der zitierten Živný-Oper, und in den großen Tanztableaus und Volksmusiken der Rahmenteile. Osud ist voll von mitreißender und äußerst theatralischer Musik. Ermöglicht das Quasi-Zitieren eines fiktiven Werkes dem Komponisten eine besondere Freiheit?
Janáček findet ja ganz unterschiedliche Ebenen, wie sich die imaginären Klangwelten des Komponisten und seine eigene vermischen oder von einander absetzen. Teilweise spricht Janáček selbst in der Musik von Živný, etwa in der Sturmmusik des dritten Aktes. Aber es gibt natürlich Stellen, wo es deutlich um das Zitat aus der Oper geht, etwa der Liebesmelodie im zweiten Akt, die zuerst Živný, dann Mila singt und am Schluss in der Verzerrung durch die Stimme der wahnsinnigen Mutter erklingt. Hier ist sehr genau ausdifferenziert, wann im Rahmen der Spielhandlung gesungen wird.
Bitte ein paar Worte zum szenischen Ansatz?
Unser Bühnenbildner Bert Neumann stand natürlich auch vor der Aufgabe, für die Verbindung mit dem Schönberg eine ästhetische Klammer zu finden – also Kontrast und Korrespondenz beider Werke bildlich und räumlich zu artikulieren. Für den Janáček-Teil ist der Kontrast zwischen den Kammerspielszenen und den großen Gesellschaftstableaus entscheidend: im ersten Akt auf der Promenade des mährischen Kurorts Luhačovice, in den man als nationalbewusster Tscheche fuhr. Man spürt etwas von der ungeheuren Euphorie der Sommerfrische, dieser prickelnden Atmosphäre, die auch Janáček viele Jahre lang immer wieder genossen hat. Es ist spannend, die beiden Ebenen gegeneinanderzusetzen: das mit vielen kleinen Momentaufnahmen und Schlaglichtern kleiner und kleinster solistischer Partien impressionistisch Hingetupfte und das Kammerspiel der ersten Begegnung von Živný und Míla, die ein Versuch ist, mit ihrer komplizierten und schmerzvollen Geschichte umzugehen. Im zweiten Akt die Familienszene, wo deutlich wird, dass Živnýs Produktivität im prosaischen Ehealltag versiegt ist und er sich an dem festhält, was er einmal geschaffen hat. Im Konservatoriumsambiente des dritten Aktes bricht Živný gleichsam in seine eigene Geschichte ein, es kommt zu einer furchtbaren Selbstentblößung. In der Kontrastierung dieser Ebenen liegt der große Reiz. Die Analyse der Figuren ist ganz großer Janáček, in der Charakteristik, den seismographisch protokollierten Verstörungen, dem Erfassen dieser Personen, in der Zeitraffung und in der Lakonie, mit der der Komponist in wenigen Takten eine ganze Welt erzählen kann.
Die Fragen stellte Marie Luise Maintz
Osud – Die Kritische Ausgabe
Schicksal entstand in den Jahren 1904 und 1905, genau zwischen der Uraufführung und den Überarbeitungen der Jenůfa. Es ist eine Oper voll der musikalischen Experimente, der Suche nach neuen harmonischen, metrischen und instrumentalen Möglichkeiten. Hier finden wir zum ersten Mal in reiner Form den „kathartischen Walzer“, umfangreiche polymetrische Flächen, die Verwendung äußerster Randlagen der Instrumente, eine Orgel, ein Klavier und erstmals auch eine Viola d’amore.
Die kritische Edition von Schicksal basiert auf einem gründlichen Vergleich aller erhaltener Quellen. Die größte Bedeutung hat eine von Janáček autorisierte Abschrift von 1905, in der die Überarbeitungen von 1906 und 1907 eingezeichnet sind. Außerdem ein handschriftliches Exemplar Janáčeks, das zur Übung diente (Klavierauszug) und seine Abschrift. Wichtige Quellen sind auch die Orchesterstimmen der Zeit und die Abschrift des Librettos, die für das Theater in den Weinbergen bestimmt war. Die Edition kehrt zu Janáčeks Originalfassung nach der Überarbeitung von 1907 zurück, und zwar nicht nur in musikalischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf den Text. Das neue Aufführungsmaterial ermöglicht es, die Oper erstmals in ihrer ursprünglichen Fassung aufzuführen, ohne die späteren Ergänzungen und Korrekturen.
Jiří Zahrádka
(Übersetzung: Kerstin Lücker)
[aus [t]akte 1/2012]