Die Kolonialisierung wirkt nach, bis heute. Auf der Basis des Romans „Eisejuaz“ der Argentinierin Sara Gallardo hat Beat Furrer eine Chor-Ensemble-Werke komponiert. Furrer geht es um animistisches Bewusstsein, das uns verloren ging, um das Bewusstsein der Verbindung zum „Anderen“. Am 6. Mai 2022 werden die „Sechs Gesänge“ in Amsterdam uraufgeführt.
Wo beginnt und endet das Menschsein, die Menschlichkeit? Beat Furrer komponiert in den „Sechs Gesängen“ Texte der argentinischen Schriftstellerin Sara Gallardo aus ihrem 1971 veröffentlichten Roman „Eisejuaz“. Zuvor, bei seiner Beschäftigung mit möglichen dramatischen Stoffen, war Beat Furrer zunächst auf einen alten Disput aus der Geschichte der Kolonialzeit gestoßen, der den Begriff der Menschlichkeit zur Diskussion stellte und die Menschenwürde verhandelte: Der Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas stritt 1550 in einem berühmten Prozess für die Rechte der indigenen Völker Südamerikas, gegen Versklavung und Ausrottung. Mehr als vierhundert Jahre später erzählt die Schriftstellerin und Journalistin Sara Gallardo von der Ausbeutung und Zerstörung durch die Kolonialisierung aus einer heutigen Perspektive. In „Eisejuaz“ gibt sie einem Nachfahren eine Stimme. Ihr mehr als bemerkenswerter Roman geht auf Interviews mit einem Mataco aus dem Amazonasgebiet zurück, sie erzählt seine authentische Geschichte in einer höchst eindrücklichen Sprache. Für seine „Sechs Gesänge“ wählte Furrer Beschwörungsformeln und Anrufungen – mithin Texte, in denen die Stimme des Protagonisten sich unmittelbar artikuliert: „cedro, quebracho, lapacho … Hölzer, zerbrecht mein Herz …“ Hier spricht einer, der am Scheideweg steht, ein Arbeiter in einem Sägewerk im Amazonasgebiet, der mit jedem zersägten Stück Holz einen Teil der Natur und Lebensgrundlage zerstören muss. Er ist einer, der von dem geheimen Leben der Dinge weiß: Er ruft die verschiedenen Hölzer an, die Tiere, die Boten „desjenigen, der nur ist, der nie geboren wurde und nie sterben wird“ und wartet auf ihre Botschaft. Er ruft an und er horcht. Seine Beschwörungen artikulieren sich in einem vielgestaltigen Total aus dem Orchester und den zwölf Stimmen des Vokalensembles.
Beat Furrer zu seinen Sechs Gesängen“: „Im Wesentlichen geht es um den Verlust einer Verbundenheit mit dem ‚Anderen‘, mit dem, was wir Natur nennen. Und dieser Verlust ist bei ihm eine schmerzliche Erfahrung, die er immer wieder versucht, zu überwinden, in rituellen Anrufungen der Bäume, der Tiere und der ,mensajeros‘, die in ihm ihn mit dieser Welt verbinden. Mir geht es um diese Form des animistischen Bewusstseins, das wir verloren haben, das Bewusstsein der Verbindung zum ‚Anderen‘. Wir merken jetzt schmerzlich, dass wir uns verrannt haben in der Trennung von Natur und Kultur. Es geht um das Bewusstsein, dass wir etwas teilen, und nicht, dass wir in jeglicher Form ausbeuten. Und wenn wir am kleinsten Rädchen etwas verändern, wird sich der ganze Kosmos verschieben. Wir haben ja in unserem Denken, seit Aristoteles, diese Trennung aufgebaut und diskutieren sie seit Jahrhunderten. Letztlich betrifft das den Umgang mit dem Tod. Der Tod ist der große ‚Andere‘.
In den Chören wird das zum Ausdruck gebracht bis hin zu dem Moment im letzten Stück, wo er merkt, dass er die Verbindung verloren hat, dass er diese ‚mensajeros‘ vergeblich anruft, dass sie nicht mehr antworten: ‚Ich wollte schreien, aber hatte keine Stimme.‘ Für mich ist die Stimme selbst und das Hören wichtig. Was wir brauchen, ist ein neues Ohr für die Stimme des Anderen und ein neues Hören des ‚Anderen‘.“
Sara Galla