Beide arbeiteten als Assistenten Benjamin Brittens und teilen seit dem Gedenkjahr 1960 eine gemeinsame Leidenschaft für Gustav Mahler. Bei der Erarbeitung einer aufführbaren Fassung von Mahlers 10. Symphonie standen sie Deryck Cooke zur Seite. „Wir zwei haben sehr unterschiedliche Zugänge zu Mahlers Erbe“, sagt Colin, „David hat in der sinfonischen Tradition Mahlers gearbeitet, wozu ich mich – vielleicht gerade Mahlers wegen – nicht in der Lage sah. Auf seine Weise ist er näher an Mahler, aber er hat dies sehr erfolgreich in einem speziellen englischen Rahmen entwickelt. Ich dagegen fühle mich immer meinen Wurzeln verpflichtet, die zur außergewöhnlichen Zeit von 1900–1914 zurückweisen.“
Von allen neun Symphonien Davids ist es die Sechste von 2007, welche die direktesten Mahler-Bezüge aufweist. Dabei war er auch von einem Besuch in Toblach inspiriert – dem Ort, wo Mahler seine beiden letzten Symphonien und das Lied von der Erde komponierte. Davids 6. Symphonie enthält im ersten Satz ein Zwischenspiel als Evokation der österreichischen Alpen mit Kuhglocken, die einen Bezug zu Mahlers Sechster herstellt. Das 35-minütige Werk geht mit einem Akkord zu Ende, der auf den Schlussakkord des Lieds von der Erde zurückgeht.
Auch Colin griff Mahlers Musik in seinen eigenen Werken auf und verwendete ein Fragment aus der X. Symphonie (das nicht in die Vervollständigung aufgenommen wurde) als Geistererscheinung in Traces Remain, seinem musikalischen Palimpsest von 2013. Als ein von Melancholie überschattetes Gewirr spektraler Anspielungen auf eine Menge verlorener oder unfertiger Stücke enthält das Werk auch einen Verweis auf Beethovens Adelaide in der Instrumentierung Schönbergs, auf ein sanftes Lautenlied von Robert Johnson und auf Bruchstücke aus der 8. Symphonie von Jean Sibelius.
„Colin und ich wurden beide zur selben Zeit von Mahler besessen“, erzählt David, „und ich denke, Colins Instrumentation schuldet Mahler mehr als irgendjemandem sonst. Night Music klingt sehr nach Mahler, aber Colin wendet sich von der mahlerianischen Expressivität ab.“ Düstere Parodie ist ein Merkmal in Colins jüngeren Werken wie No Man‘s Land, eine kraftvolle Vertonung von Gedichten Christopher Reids für Bariton, Tenor und Kammerorchester von 2011. Hierin findet ein Zwiegespräch zwischen zwei Soldaten des Ersten Weltkriegs bzw. Geistern statt, die in Stacheldraht hängen, während historische Instrumente und Honky-Tonk aus dem Grammophon in eine Musik von großer Schmerzlichkeit versponnen sind.
2010 bekamen beide Brüder den Auftrag, Stücke zum 150. Geburtstag Mahler zu schreiben. Colins siebenminütiges Crossing the Alps, eine Vertonung von Zeilen aus dem VI. Buch von William Wordsworths The Prelude für achtstimmigen Chor und Orgel, ist als Einleitung zu Mahlers 2. Symphonie gedacht. Das Vokalwerk, von der Times als „mysical and moving“ beschrieben, ist zutiefst mahlerianisch und kontrastiert die Auferstehungsode mit einer humanistischen Botschaft.
Für David, der ein Begleitstück zur siebten Mahler-Symphonie komponierte, war der Ausgangspunkt instrumental: das Tenorhorn, das im ersten Satz prominent auftritt, dann aber schweigt. In David Matthews eigener 7. Symphonie, ein etwa 20-minütiger musikalischer Bogen, sticht das Tenorhorn heraus. Das Werk durchläuft endlose Veränderungen einer leidenschaftlichen Melodie und erreicht seinen Höhepunkt mit einer spannenden Kadenz des Schlagzeugs, bevor es einem überschwänglichen Ende zusteuert. „Mahlers Einfluss habe ich nie abgeschüttelt“, gesteht David unumwunden, „Ich liebe die emotionalen Qualitäten der Musik und den direkten Weg sich auszudrücken, und ich versuche so etwas auch. Meine Musik sehe ich als eine Art Autobiografie, so wie es Mahler auch tat.“
Sam Wigglesworth / Faber Music
(aus [t]akte 1/2017)