Er geht auf die Suche nach den Strukturen der Klangmaterie: Paolo Perezzani findet in der letzten Zeit größere Aufmerksamkeit für seine ausdrucksstarken Klanggebilde.
Paolo Perezzani (1955) ist Schüler von Salvatore Sciarrino und Armando Gentilucci. Er studierte Philosophie und fand 1992 erstmals internationale Beachtung, als sein Orchesterwerk Primavera dell’anima beim Wiener Internationalen Kompositionswettbewerb den 1. Preis gewann und im Rahmen von „Wien Modern“ aufgeführt wurde. Perezzanis Musik entspringt einem ständigen Erforschen der Klangmaterie, die er Prozessen organischer Umwandlungen unterwirft. Zu den von ihm am meisten verehrten Komponisten gehören neben Sciarrino auch Grisey, Lachenmann, Xenakis und Nono. Sein Forschen geht jedoch stets eigene Wege und beschäftigt sich unmittelbar mit dem Gliedern von Klängen in Organismen und Gebilden, mit Folgen von Formen und mit einer schlüssigen, den Aufbau des Stücks charakterisierenden Spannung. Klänge zusammenfügen, die ihrerseits zusammengesetzt sind: Danach strebt Perezzanis kompositorische Arbeit, ohne dass sie auf ein bloßes „Kombinationsspiel mit Noten“ zu reduzieren wäre. Die Ausdruckskraft vermittelt sich über lebendiges Klangmaterial, das atmet, spricht und eine reiche innere Gliederung aufweist.
Dem Hörer öffnen sich neue Horizonte durch Perezzanis Suche nach unterschiedlichen instrumentalen Klanggebilden: vom eindringlichen With drums and colours e addio für Klavier und Akkordeon (2008) bis zur detaillierten Klanganalyse in Fremiti fermi für Violine, Gitarre und Akkordeon (2008).
Nur selten hat Perezzani einen poetischen Text „in Musik gesetzt“: Die Einbeziehung von Worten geschieht vielmehr mittels Rezitation oder Projektionen. So ist z. B. in der Partitur von Oltre le fissurazioni (omaggio ad Andrea Zanzotto) für Ensemble (2007), vom Komponisten als „cinque presenze in forma di figure di suono“ bezeichnet, genau angegeben, wann die kurzen Gedichtfragmente von Zanzotto zu projizieren sind.
Ganz präzise definiert ist die Rezitation in dem „Radio-Film“ Donna di dolori (1994, Text von Patrizia Valduga) für Singstimme, Klarinette und Elektronik, wo die verbalen Abläufe mit den anderen Klängen in enge Verbindung treten. Über die reine Rezitation hinaus geht es in Arbeiten mit Beckett-Texten wie z. B. in Imagine si ceci für männliche Singstimme, Fagott und Violoncello (1993) sowie insbesondere in All for company, einer szenischen Kantate für drei weibliche Singstimmen (2001), wo sich Wort und Musik in einer Mischform zwischen Gesungenem, Gesprochenem und Schreien begegnen.
In anderen Vokalstücken Perezzanis steht der wortlose Gesang „eher für das Bild des menschlichen Tieres, das seine Laute von sich gibt“, wie in Thauma für acht Singstimmen (1999). Dazu stellt Perezzani fest: „Die vokalen Gebärden scheinen mitunter in ihrer zeitlichen Verteilung und Organisation ein Art Sprache wiederzugeben; aber es handelt sich dann um unbekannte Worte: um bloße Klangfiguren.“
Bei der Umsetzung der Partitur von Au bord du sens (am 1. Oktober 2010 in Ostfildern aufgeführt) waren mehrere Gruppen aufgeboten: neben Berufsmusikern (8 Mitglieder der Neuen Vocalsolisten, 4 Schlagzeuger) auch Amateure in 8 Gesangsgruppen (insgesamt 130–160) und in 4 Orchestern (ungefähr 80 Jugendliche zwischen 9 und 14 Jahren). Einfache, genau definierte musikalische Handlungen für die Amateure erzeugen durch die zahlreichen Beteiligten komplexe Klangmassen: eine große Erfahrung des gemeinsamen Musizierens. Die Aufführung nimmt ihren Anfang an verschiedenen Orten der Stadt, wo die Ausführenden mit dem Spielen beginnen, um sich dann in Richtung Konzertsaal zu bewegen und sich dort um das Publikum herum aufzustellen. Ein Fragment von Beckett (aus dem vierten Stück von All for company) ist der einzige für die Gesangssolisten vorgesehene Text, während andere, auf Leinwand projizierte Texte untereinander und mit den produzierten Klängen in Wechselwirkung stehen. Sie stammen aus Werken von Jean-Luc Nancy, der mit Perezzani zusammen ihre Auswahl besorgte, und von Aristoteles, Hegel und Nietzsche. Der letzte Text ist von Hölderlin:
„Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.“
Paolo Petazzi
(Übersetzung: Irene Weber-Froboese)