Jean-Philippe Rameaus Oper „Castor et Pollux“ war ein außergewöhnlicher Erfolg, allerdings erst in der umgearbeiteten Fassung von 1754. Nun ist das Werk in der Gesamtausgabe erschienen.
Auch das Schicksal von Jean-Philippe Rameaus dritter Oper „Castor et Pollux“ ist eher ungewöhnlich. Als Tragédie lyrique mit einem Prolog und fünf Akten war sie im Oktober 1737 an der Académie royale de musique für einundzwanzig Vorstellungen zur Aufführung gelangt, um erst siebzehn Jahre später, im Januar 1754, wieder aufgenommen zu werden. Die Umarbeitung eines eigenen Bühnenwerks war für Rameau nichts Außergewöhnliches, es gibt dafür zahlreiche Beispiele, unter anderem Dardanus (1739/1744), „Platée“ (1745/1749) oder „Zoroastre“ (1749/1756). Dass ein Werk jedoch so lange nach seinen ersten Aufführungen vernachlässigt wurde, mutet seltsam an.
Zweifellos war Rameau über die zurückhaltende Aufnahme der Premiere enttäuscht gewesen, und es scheint als habe er sich der Umarbeitungen der Oper erst auf Druck der beiden Direktoren der Académie royale de musique, François Rebel und François Francœur, angenommen. Wie diese sah Rameau dann aber in der Wiederaufnahme von „Castor et Pollux“ ein geeignetes Mittel, um in dem akut ausgebrochenen Bouffonistenstreit gegenüber den Anhängern der italienischen Opera buffa den Beweis für die Vorrangstellung, den Einfluss und die Größe des französischen Stils zu liefern.
Für die neue Version ließ Rameau Pierre-Joseph Gentil-Bernard das Libretto umschreiben. Er strich den Prolog, schrieb einen komplett neuen ersten Akt und zog die ursprünglichen fünf Akte zu vier zusammen, wobei er die leicht modifizierten Akte III und IV von 1737 zu einem neuen vierten Akt umarbeitete. Aus den ebenfalls mit einigen Änderungen versehenen Akten I, II und V von 1737 wurden in der neuen Fassung die Akte II, III und V. Die ursprüngliche Liebesgeschichte zwischen den Schwestern Télaïre und Phoebé und den Brüdern Castor und Pollux wurde vereinfacht, wobei die Freundschaft der beiden Brüder größere Bedeutung bekam. Gleich zu Beginn des ersten Akts verzichtet Pollux zugunsten seines Bruders auf die Liebe zu Télaïre; am Ende desselben Akts wird Castor auf Betreiben der eifersüchtigen Phoebé von Lincée umgebracht. Nachdem er den Reizen der „Plaisirs“ widerstanden und die Monster der Unterwelt bezwungen hat, opfert Pollux seine Unsterblichkeit und erklärt sich bereit, in der Unterwelt den Platz des Bruders einzunehmen, damit dieser Télaïre zurückgewänne. Dieses Opfer lässt Jupiter nicht ungerührt. Er gewährt Castor und Télaïre Unsterblichkeit und weist ihnen als Sternbild einen Platz neben Pollux zu.
Ganz anders als bei der Uraufführung 1737 feierte „Castor et Pollux“ im Januar 1754 einen glänzenden Erfolg und wurde anschließend bis zum Mai 1755 regelmäßig gespielt. Im November 1763 fand eine Aufführung am königlichen Hof statt, und im Januar 1764, also sechs Monate vor dem Tod des Komponisten, begann eine Aufführungsserie an der Académie royale de musique, die bis zum Juni 1765 andauerte. Auch von 1770 bis 1782 wurde das Werk regelmäßig aufgeführt – ein untrüglicher Beleg für seine Popularität.
Dank eines erst kürzlich entdeckten Manuskripts, das in vielem mit dem von Rameau in den letzten Monaten des Jahres 1753 ausgearbeiteten Autograph übereinstimmt, findet diese zweite Fassung mit ihrer strafferen Handlung zugleich zu einer glänzenden, raffinierten Orchestrierung zurück. Die kritische Neuausgabe enthält im Anhang die Zusätze und Änderungen, die Rameau in dem ihm eigenen Perfektionsdrang für die Wiederaufnahme von 1763/1764 vorgenommen hatte. Und so zeigt sich die späte Fassung, die (in der Aufführungsgeschichte des 20. Jahrhunderts möglicherweise aufgrund der Edition von August Chapuis innerhalb ersten Werkausgabe von 1903) unberechtigterweise im Schatten der Version von 1737 stand, in ihrer ganzen musikalischen Kraft und dramatischen Größe.
Denis Herlin
(aus „[t]akte“ 2023 / Übersetzung: Annette Thein)