Die Macht der Töne spielt in Shakespeares Werk eine bedeutende Rolle. Sie geleitet dort weiter, wo die Sprache stagniert. Sie führt nach außen in die unhörbaren Räume der kosmischen Ordnung. In Perikles schwärmt der Titelheld von einer „Musik der Sphären”, die freilich nicht jeder vernehmen kann. „Seltene Klänge! Und ihr hört sie nicht?” In Othello spricht der Narr von einer Musik „die man nicht zu hören braucht“. In The Tempest, dem wohl letzten, 1611 geschriebenen Stück des elisabethanischen Dramatikers, verbindet der auf der Zauberinsel des weisen Prospero gestrandete Königssohn Ferdinand das Bildnis des den Naturgewalten ausgesetzten hilflosen Menschen mit der Sehnsucht nach Erlösung durch die Kraft der unfassbaren Töne: „Musik, wo ist sie? In der Luft, auf Erden?” Dem weinenden Schiffbrüchigen wird sie zur Lebensretterin: „Beschlich mich die Musik her übers Meer, / So mildernd Wasserwut wie meinen Schmerz / Mit ihrem süßen Klang: da folgt ich ihr.” Dem kosmischen Sphärenklang korrespondiert die Landschaft der Seele. Shakespeares auf die Analogien des Seienden ausgerichteter Blick erspäht in deren Tiefen das mikrokosmische Pendant zu den makrokosmischen Harmonien. Prospero beschreibt mit seinem Zauberstab zum letzten Mal einen magischen Kreis, beschwört nochmals die Himmelsklänge, um mit solcher Musiktherapie die Rückkehr in die Geschichts- und Menschenwelt anzutreten. Er, der die Vergänglichkeit von allem erkannt hat – „Wir sind aus Stoff, wie er zu träumen taugt; und unser kleines Leben / Schließt ab mit einem Schlaf” –, braucht diese klingende Heilkunst, um in diesen Lebenstraum und in diesem Traumleben zu bestehen: „Erhabne Melodie als beste Helferin / Verworrener Fantasie heil dir das Hirn.”
Immer wieder wurden in der neuzeitlichen Geschichte des Theaters Shakespeares Gedichte und Dramen in Töne gesetzt. Eine ursächliche Affinität von Dichtung und Musik scheint hier offenkundig. Gerade Der Sturm, selbst „voller Musik aller Art” (W. H. Auden) wurde immer wieder vertont. Mozart plante noch in seinem Todesjahr eine Sturmoper mit dem Titel Die Geisterinsel. Frank Martins Der Sturm und Luciano Berios Un re in ascolto sind nur zwei herausragende Beispiele der Gegenwartsmusik, die sich unablässig auch des Stoffes angenommen hat.
Thomas Adès’ Oper ist das jüngste Werk, das sich an den großen Stoff wagte. Der Komponist, nach Simon Rattle Englands gegenwärtig „stärkste Begabung” mit außergewöhnlichem „Gespür für Tiefe und Dunkelheit, das hinter tänzerischer Leichtigkeit verborgen ist”, hat sich in Suffolk von den elementaren Klängen der Nordseebrandung inspirieren lassen. Als „Meeroper“, aus einem „Küstenerlebnis” erwachsend, hat er sein Werk bezeichnet. Wie in Verdis Otello setzt es mit einer ungeheuren Natureruption ein. Adès zeigt sich hier schon als Meister der Amalgamierung unterschiedlicher Stilformen. Der ihm stereotyp gemachte Vorwurf eines chamäleonhaftigen Eklektizismus aber zielt am Grundzug seiner Musik vorbei. Die Vergangenheit dient keineswegs als bloßer Steinbruch der eigenen Konstruktion. Sie wird in Adès’ kompositorischem Verfahren umgebildet, symbiotisch in andere Zeitschichten transferiert oder durch Kollisionen mit ihnen verfremdet. Adès’ gegenwartsbezogener Blick sichtet das Vergangene nicht als fortschreibende Chronik epochaler Strömungen. Er identifiziert das Reservoir musikalischer Ausdrucksformen nicht als vertikale Folge, sondern als horizontal zu wertende Gleichzeitigkeit aller nur möglichen Klangwelten. Genau hierin gerät er in den Breitengrad der Musikphilosophie Shakespeares. Wie es im Wintermärchen der Musik gelingt, die versteinerte Königin wieder zum Leben zu erwecken, das Erstarrte im Jetzt eines erhöhten Augenblicks magisch auferstehen zu lassen, versuchen Adès’ Kompositionen dem musealisierenden Zugriff zu entkommen. Einer chronologischen Ordnung aufeinanderfolgender Stilepochen stellt er die Simultaneität des Ungleichzeitigen gegenüber.
Von einer Magie der Verschmelzung des Getrennten wird die 2004 im Royal Opera House uraufgeführte Oper The Tempest von Anfang an bestimmt. Die orkanhafte, von einer außer Rand und Band geratenen Natur kündende Musik des Vorspiels scheint dies geradezu programmatisch vorwegzunehmen. Alle danach auftretenden Figuren werden gezeichnet von solchen, alle Epochen der Tonkunst streifenden Elementen. Ariel etwa, der Luftgeist, der bei Shakespeare die Figuren durch seine Musik lenkt, durch Musik die aufgewühlte äußere Natur ebenso besänftigen kann wie den inneren Seelenschmerz, wird bei Adès von einem in schwindelerregend hohen Lagen singenden, koloraturenreichen Sopran besetzt, der alle Grenzen der Tessitura zu sprengen scheint und mit einer beispiellosen Kaskade von hohen Es’ aufwartet. Manierismus und barocker Lamentostil, Belcanto-Tradition, dadaistische Lautakrobatik und die stimmexperimentellen Techniken der Gegenwartsmusik vereinigen sich hier. Italienische Operncouleur stellt sich in einfachen Linien ein beim Liebespaar Fernando und Miranda. Expressionistisch von schmerzdurchtränkten Passagen bestimmt, deuten Prosperos dissonante, von Halbtonschritten bestimmte Melodiefiguren auf Bergs Tonsprache ebenso hin wie auf die Musik der Leidensfiguren des von Adès hochverehrten Leoš Janáček. Der böse Geist Caliban darf ganz im Gegensatz zu seiner finsteren Dämonie eine geradezu klassisch aufgebaute Tenorarie in hell aufglänzendem hymnischem A-Dur singen.
Das Libretto von Meredith Oakes verkürzt und komprimiert die poetische Vorgabe. Shakespeares Sprache, der der musikalische Ausdruck so immanent ist wie bei keinem anderen Dramatiker, wird ersetzt durch humorige Knittelverse, deren urbritische Herkunft kaum zu überhören ist. Das Textbuch, das von den komikhaften und bisweilen bizarren Charakteristika des Englischen durchsetzt ist, ließe sich ohne Verlust an Witz wohl kaum in eine andere Sprache übertragen.
Norbert Abels
Thomas Adès’ “The Tempest” - first performances in Germany
Thomas Adès
The Tempest (Der Sturm)
Oper in drei Akten op. 22 (2003/2004)
Libretto: Meredith Oakes (nach William Shakespeares gleichnamiger Komödie von 1611) (englisch)
Deutsche Erstaufführung: 10.1.2010 Oper Frankfurt, Musikalische Leitung: Johannes Debus, Inszenierung: Keith Warner, 12.3.2010 Oper Lübeck, Musikalische Leitung: Philippe Bach, Regie: Reto Nickler
Personen: Prospero (hoher Bariton), Ariel (hoher Sopran), Caliban (Tenor), Miranda (Mezzosopran), Ferdinand (Tenor), Der König (Tenor), Antonio (Tenor), Stefano (Bassbariton), Trinculo (Countertenor), Sebastian (Bariton), Gonzalo (Bassbariton), Chor: Hofgesellschaft
Orchester: 3(2Picc),3(Eh),3(BKlar),3(Kfg) – 4,3,3(BPos),1 – Pk,Schlg(2 od.3) – Hfe – Klav – Str
Dauer: ca. 2 Stunden
Verlag: Faber Music, Vertrieb: Alkor-Edition