Die Gewaltanwendung des Staates gegen seine Bürger ist das Thema von Michael Jarrells Musiktheater Le Père nach einer Episode von Heiner Müller. Die Uraufführung fand am 3. Juni bei den Schwetzinger Festspielen statt.
Michael Jarrells Musiktheaterwerk Le Père entstand nach dem Text Der Vater aus Heiner Müllers Germania Tod in Berlin und stellt einen Brennpunkt der musikalischen und poetischen Themen dar, mit denen sich der Komponist immer wieder intensiv auseinandersetzt. In Müllers kurzem, aus fünf Teilen bestehendem Text erzählt ein Kind von seinem aus politischen Gründen verhafteten Vater. Mit der Verhaftung im Jahre 1933 beginnt der Text und endet mit der Freilassung des Vaters 1934. Diese Erfahrung macht den Vater zu einem gebrochenen, traumatisierten Mann, sein fünf Jahre alter Sohn und seine Frau werden nicht weniger schwer getroffen.
Die Episode ereignet sich in einer Zeit der Gewaltanwendung des Staates gegen seine eigenen Bürger: Er befindet sich dadurch gewissermaßen in einem Ausnahmezustand, einem kriegsähnlichen Zustand (oder einem Zustand hin zu einem Krieg). Ein solcher Kriegszustand gibt auch den Hintergrund für Jarrells Cassandre ab, das kürzlich bei Kairos auf CD erschienen ist und mit Fanny Ardant in der Titelrolle in Prag zur Aufführung kam. Wie der Komponist darlegt, hat nicht nur der Trojanische Krieg, um den es in diesem Werk geht, sondern auch der erste Irakkrieg in der Arbeit an Cassandre (1993/94) seinen besonderen Nachhall gefunden. Auf der Suche nach Worten, in die seine Vorstellungen zu fassen wären, stieß Jarrell in Un Balcon en forêt (1958) von Julien Gracq auf …un long fracas somptueux de rapide céleste…: Der französische Autor beschreibt damit die Unmenschlichkeit einer abgefeuerten Kanone im Ersten Weltkrieg.
Das Thema des Krieges findet seine Entsprechung in den musikalischen Formen von Jarrells Kompositionen. So beginnt das Werk …un long fracas somptueux de rapide céleste… (1998/2001) für Schlagzeug und Orchester mit einem orchestralen Knall, unmittelbar gefolgt vom solistischen Schlagzeug. In Cassandre sehen sich die handelnden Personen von dem (angekündigten) Schrecken der Ereignisse überwältigt, und der Komponist lässt eine Dramaturgie erkennen, die der streng akademisch gebauten Musik eigen ist. In …denn alles muss in Nichts zerfallen… (2005) errichtet Jarrell ein regelrechtes Denkmal der Gräuel des Zweiten Weltkriegs und der Deportationen, indem er Klänge und Texte ineinander verschachtelt. Immer wieder ist es ein Kriegszustand, der das dichterische Thema vorgibt, hier unter dem Gesichtswinkel der Erinnerung: Man bewahre die Erinnerung an die Katastrophe, auf dass diese sich nicht wiederhole.
Der gleiche Aspekt des Erinnerns und das gleiche Thema der staatlichen Gewalt finden sich in Le Père für Schlagzeug, Singstimmen und, zu ihrer Verstärkung, Elektronik (Ausführung durch das Institut de recherche et coordination acoustique/musique Ircam). Heiner Müllers Text handelt von der Vergangenheit. Der Erzähler, erwachsen geworden, blickt auf den Vorfall zurück, und in analoger Weise spielt der Komponist mit dem Gedächtnis des Zuhörers, indem er einmal präsentiertes musikalisches Material in modifizierter Form immer wieder aufnimmt.
Außerdem stellt Müllers Text zwei einfache Begriffe heraus: Gegenwärtigket und Abwesenheit. Die Gegenwart des abwesenden Vaters ist durch den gesprochenen Text gegeben. Die Vorstellung, dass ein Wesen weggeht und nicht mehr da ist, liegt zahlreichen Werken von Jarrell zugrunde: …mais les images restent… für Klavier (2003), …some leaves… und …some leaves II… (1998/99) für Violoncello bzw. Bratsche, …more leaves… für Bratsche, fünf Instrumente und Elektronik (2000), …paysages avec figures absentes… (Nachlese IV) für Violine und Ensemble (2009), Abschied und Abschied II für Klavier und Orchester bzw. Klavier und Ensemble (2001 bzw. 2004). Die kompositorische Arbeit dreht sich bei Michael Jarrell in entscheidendem Maße um Spuren und auch darum, wie die Musik die Wahrnehmung prägt. Den ersten der drei miteinander verbundenen Teile von Le Père beschreibt der Komponist folgendermaßen: „Nicht chronologisch ablaufender Teil der tastenden Versuche; von musikalischen, zuweilen von der Realität losgelösten Bildern von Bruchstücken; von Wörtern, die in uns Spuren hinterlassen, von Zeichen, denen wir in der Folge wieder begegnen werden.“
Es geht hier, zusammenfassend gesagt, um ein für die Bühne geschriebenes Werk, in dem Gewalt und die Erinnerung an Gewalt dramatisiert werden. Die Stimmen verkörpern den Affekt. Der Vater ist nicht abwesend: Er ist auf der Bühne, dargestellt von einem Schauspieler. Das Nebeneinander der verschiedenen gelesenen Texte dieses Vaters verschafft uns das Vergnügen einer von Musik umrahmten Erzählung.
Benoît Walther
(Übersetzung: Irene Weber-Froboese)
(aus: [t]akte 2/2010)
Presence and absence. Michael Jarrell’s “Le Père” for the Schwetzingen Festival
Michael Jarrell
Le Père
Uraufführung: 3.6.2010 Schwetzinger Festspiele
Gilles Privat (Der Vater), Mitglieder der Neuen Vocalsolisten Stuttgart, Les Percussions de Strasbourg, Inszenierung: André Wilms;
Weitere Aufführungen: 4. und 5.6.2010
Verlag: Editions Henry Lemoine, Vertrieb: Alkor
Weitere Informationen: www.michaeljarrell.com, www.henry-lemoine.com