Es war eine Sensation, als 1991 das Manuskript der „Messe solennelle“ wieder auftauchte. Anlass für einen Rückblick des Herausgebers.
Die Entdeckung von Berlioz‘ Messe solennelle aus 1824 war eine der erstaunlichsten musikwissenschaftlichen Entdeckungen des späten 20. Jahrhunderts. Obwohl sie bereits zweimal zu Berlioz‘ Lebzeiten aufgeführt wurde und auch in seinen Mémoires Erwähnung fand, war die Musik selbst aber verschollen, bis 1991 Frans Moors die Manuskripte in der Kirche von St. Carolus Borromaeus in Antwerpen fand. Dies führte zur ersten Publikation des Werks im Jahre 1993 beim Bärenreiter-Verlag im 23. Band der New Berlioz Edition. Am 3. Oktober 1993 wurde die Messe unter der Leitung von John Eliot Gardiner im St. Petri Dom zu Bremen wiederaufgeführt.
Es war umso überraschender, als Berlioz in seinen Mémoires und in den Briefen an seine Freunde behauptet hat, dass er das Werk zerstört habe. Das gleiche sagte er auch zu den meisten seiner frühen Kompositionen, wie Le Cheval arabe, der Oper Estelle et Némorin, dem Oratorium Le Passage de la mer rouge und der dramatischen Szene Beverley ou le joueur. Vielleicht waren alle zerstört; sie wurden zumindest nie gefunden. Aber nach der zweiten Aufführung der Messe solennelle in St. Eustache in Paris im November 1827 war es für Berlioz klar, dass das Werk nicht wieder aufgeführt werden sollte, und er zerstörte mit großer Sicherheit die Chor- und Orchesterstimmen. Möglicherweise ohne darüber nachzudenken, welche Konsequenzen es haben könnte, gab Berlioz das Autograph der Partitur dem belgischen Geiger Antoine Bessems, der wohl in der Aufführung von 1827 mitspielte.
Bessems starb 1868 und überließ das Manuskript seinem Bruder Joseph, der Organist an der Kirche St. Carolus Borromaeus war. Nach Josephs Tod blieb das Manuskript unbemerkt in einer Truhe auf der Orgelempore, bis 1957 bei einer Bestandsaufnahme durch einen Mitarbeiter der Kirche das Manuskript zutage kam, das aber zu Beginn noch keine besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. Erst als Frans Moors es 1991 sah, wurde er sofort von der Notiz auf dem Umschlag überrascht, die erklärte, dass das Manuskript vollständig von der Hand Berlioz‘ stammte.
Die moderne Erstaufführung fand im Oktober 1993 im Rahmen eines Festivals in Bremen statt, das von John Eliot Gardiner und seinem Orchestre Revolutionnaire et Romantique und dem Monteverdi Choir gegeben wurde. Im Anschluss folgte eine Europatournee mit Auftritten in Wien, Madrid, Rom und London, wobei das letzte Konzert dieser Reihe sogar im Fernsehen übertragen und aufgezeichnet wurde.
Als die Musik 1993 zu neuem Leben erweckt werden sollte, versprach sich niemand ein Meisterwerk. Auch erwartete niemand, so viele Stellen zu finden, die der Komponist später für andere Werke übernahm. Ich werde nie vergessen, als ich zum ersten Mal dieses Manuskript 1992 in Antwerpen las und mir plötzlich Passagen aus der Symphonie fantastique, Benvenuto Cellini, dem Requiem und dem Te Deum begegneten. Das „Agnus Dei“ wurde sogar fast unverändert übernommen wie auch das „Te ergo quæsumus“ im Te Deum von 1849; somit kann Berlioz mit seiner gesamten Arbeit nicht ganz unzufrieden gewesen sein.
Nach fünfundzwanzig Jahren würden die meisten Musikexperten zustimmen, dass die Messe brillant und originell, aber in vielerlei Hinsicht auch unreif ist. Berlioz‘ Art, für einen Chor zu schreiben, ist plump, und die Verpflichtung der Musik gegenüber seinem Lehrer Jean-François Lesueur ist ziemlich deutlich. Berlioz wusste 1827 bereits, dass er Musik von weit größerer Bedeutung schreiben und dass sein Ansehen nicht auf einem solchen Stück beruhen würde.
Nach ihrer Wiederaufführung 1993 wurde die Messe solennelle von Chören und Dirigenten in aller Welt mit Begeisterung aufgenommen. Innerhalb von drei Jahren wurde sie in über sechzig Städten auf allen Kontinenten aufgeführt. Heutzutage sind Aufführungen seltener und werden meist von Chören bestritten, die ein Werk von Berlioz singen möchten, das geringere Anforderungen stellt als Berlioz‘ Requiem oder sein Te Deum.
Nur wenige der besten Dirigenten der Welt haben die Messe bisher in ihr Repertoire übernommen, obwohl die Interpretation von John Eliot Gardiner ein hohes Niveau erreichte. Seiji Ozawa und das Boston Symphony Orchestra führten das Werk im Oktober 1994 auf und nahmen es dann nach New York und Tokio mit. In jüngerer Zeit wurde es von Riccardo Muti in Paris, Luxemburg, München, Wien und dreimal bei den Salzburger Festspielen 2012 aufgeführt. Ein früher Befürworter war der französische Dirigent Jean-Paul Penin, der es in vielen französischen Städten sowie in Polen und Südamerika zur Aufführung brachte. Kommerzielle Aufnahmen wurden von Gardiner, Penin und dem amerikanischen Dirigenten Reilly Lewis mit der Washington National Cathedral Choral Society gemacht.
Hugh Macdonald
(aus [t]akte 1/2018)