Nur wenige Werke komponierte Rossini noch in seinen letzten Lebensjahren. Dazu zählt die Petite Messe Solennelle, die er privat aufführen ließ. Diese kammermusikalische Fassung mit zwei Klavieren und Harmonium ist in zwei Versionen überliefert. Sie werden nun erstmals in einer Edition präsentiert.
Rossini komponierte die Petite Messe Solennelle überwiegend 1863 in seiner Villa in Passy (damals ein Vorort von Paris). Im Zusammenhang mit der Messe, dem wichtigsten Werk seiner späten Pariser Jahre (1855–1868), spricht er von seiner „letzten altersbedingten Todsünde“. Das autographe Manuskript der Messe, das in der Fondazione Rossini in Pesaro aufbewahrt wird, enthält eine Widmung an Gräfin Louise Pillet-Will sowie zwei weitere Aufschriften, die sich direkt an Gott richten. Diese Widmung lautet:
„Buon Dio, Eccola terminata questa povera piccola Messa. Ho scritto Musica Sacra o piuttosto una Musica Maledetta? Ero nato per l’opera comica, tu lo sai bene. Non molta scienza un po’ di cuore, tutto qui. Sia Tu dunque benedetto e concedimi il Paradiso.“
„Gütiger Gott. Hier ist sie, vollendet, diese ärmliche, kleine Messe. Habe ich Geistliche Musik geschrieben oder eher Verdammte Musik? Ich wurde geboren, um komische Opern zu schreiben, du weißt es nur zu gut! Nicht viel Wissenschaft, ein kleines Herz, das ist alles. Sei gesegnet und gewähr mir einen Platz im Paradies.“
Für zwölf Stimmen angelegt (vier Solisten, die auch gemeinsam mit dem Chor singen, und acht zusätzliche Chorsänger) und für zwei Klaviere und Harmonium gesetzt, wurde die Messe mit einem geringfügig größeren Chor am 14. März 1864 vor geladenem Publikum uraufgeführt. Hiermit wurde die Einweihung des prächtigen, neuen Heims des Grafen und der Gräfin Alexis und Louise Pillet-Will in der Rue de Moncey 12 gefeiert. Rossini wohnte dieser halböffentlichen Aufführung nicht bei, nahm aber am Nachmittag zuvor an der Generalprobe vor einem kleineren Publikum teil.
Die Petite Messe Solennelle wurde im nächsten Jahr noch einmal im Haus der Pillet-Wills aufgeführt. Die Generalprobe wurde wieder an einem Sonntagnachmittag abgehalten, Rossini war anwesend. Die eigentliche Aufführung fand am nächsten Abend, dem 24. April 1865, statt. Vokalsolisten, Instrumentalisten und Dirigent waren dieselben wie 1864.
Dank des kürzlich entdeckten und sich immer noch im Besitz der Pillet-Will-Familie befindlichen Manuskripts, wird nun deutlich, dass sich die Musik, die 1864 und 1865 aufgeführt wurde, in vielerlei Hinsicht von der Musik unterscheidet, die wir heute von Rossinis autographer Handschrift in der Fassung für zwei Klaviere und Harmonium kennen. Nicht nur, dass darin das So-pransolo „O Salutaris“ nicht enthalten ist, auch die eröffnenden instrumentalen Zwischenmusiken und Nachspiele zu vielen Abschnitten sind kürzer und einzelne Phrasen werden weniger stark betont. So fehlen beispielsweise die ersten sieben, hoch chromatischen Takte des „Qui tollis“ im „Gloria“: Die Musik beginnt sofort mit der wichtigsten Begleitfigur. Ebenso fehlt das 20-taktige instrumentale Nachspiel zum „Quoniam“, mit seinen kunstvollen Modulationen in die Tonart des „Cum sancto spiritu“: Stattdessen beschließen zwei Takte auf der Tonika diesen Abschnitt. Der instrumentale Schluss des Credo ist im Pillet-Will-Manuskript weniger ausgedehnt und rhetorisch nicht so eindringlich. Kurzum, das Werk wurde im wahrsten Sinne mehr im Hinblick auf eine Aufführung als „Kammermusik“ eingerichtet. Die neue Bärenreiter-Ausgabe enthält beide Fassungen, wobei die Pillet-Will-Fassung zum ersten Mal veröffentlicht wird.
Als Rossini sich entschloss, die Messe zu orchestrieren, nahm er Revisionen vor. Auch wenn er vielleicht bereits kurz nach der Uraufführung über eine Orchesterfassung nachgedacht haben mag, gibt es keine Beweise dafür, dass er diese Arbeit vor 1866 aufgenommen hat. Im April 1867 war das Werk vollendet. Nachdem er diese Mühen auf sich genommen hatte, wollte er sicherstellen, dass kein anderer eine weitere Orchesterfassung erstellen würde. So ließ der Komponist die autographen Manuskripte beider Versionen der Petite Messe Solennelle verschwinden: die Version für zwei Klaviere und Harmonium (in der Form, die vermutlich der Orchestrierung zugrunde lag) und die Version mit großem Orchester. Zu Lebzeiten erlaubte er keine weiteren Aufführungen dieser beiden Versionen.
Die Musik, die er ursprünglich für die Pillet-Wills komponierte, ist heutigen Interpreten nun wieder zugänglich.
Philip Gossett
(Übersetzung: Jutta Weis)
(aus: [t]akte 1/2010)