Carlo Gesualdo gilt als der Avantgardist seiner Zeit. Doch verlässliche Noten sind bis heute kaum greifbar. Die Gesualdo-Gesamtausgabe wird dies ändern.
Carlo Gesualdo, der „Fürst von Venosa“ (1566–1613), ist nicht nur einer der großen Komponisten der europäischen Musikgeschichte, sondern auch einer der wenigen seiner Epoche, die das heutige Publikum noch ebenso überraschen und emotional berühren wie die Hörer ihrer Zeit. Man hat ihn mit Schönberg verglichen und ihn als Visionär bezeichnet, der die Neue Musik des 20. Jahrhunderts vorwegnahm, Strawinsky erklärte ihn zu seinem Vorbild und widmete ihm 1960 das berühmte Monumentum pro Gesualdo. Auf Strawinskys Spuren ließ sich in den folgenden Jahren eine wachsende Zahl von Künstlern und Intellektuellen von dem fürstlichen Komponisten faszinieren – von Werner Herzog über Alfred Brendel und Claudio Abbado bis zu Komponisten wie d’Avalos, Schnittke, Ligeti, Sciarrino, Francesconi und Holten. Die wissenschaftliche Literatur zu Gesualdo ist heute unübersehbar, Interpreten haben seine Werke durch Konzerte und Aufnahmen immer zugänglicher gemacht. Und doch bleibt hinsichtlich der Quellen noch viel Forschungsarbeit zu leisten. Musiker, die Gesualdo aufführen wollen, sind nach wie vor auf die 1957–1967 von Watkins und Weismann im Ugrino-Verlag herausgegebene Edition der Sämtlichen Werke angewiesen, die seit geraumer Zeit nicht mehr im Handel erhältlich ist. Diese verdienstvolle Ausgabe war natürlich ein Kind ihrer Zeit und entspricht nicht mehr unseren heutigen Anforderungen. So erscheint es in Ermangelung von Autographen heute beispielsweise naheliegend, auf den Erstdruck jedes Madrigalbuchs zurückzugreifen; die Ugrino-Edition basierte dagegen auf der berühmten Partitura delli sei libri de’ madrigali, die der Lautenist Simone Molinaro wahrscheinlich ohne jede Aufsicht des Komponisten 1613 in Genua herausbrachte. Diese Einschränkungen und das Fehlen einer vollständigen Gesualdo-Ausgabe auf dem Markt haben in den letzten Jahren Wissenschaftler verschiedener Universitäten dazu veranlasst, eine neue Edition dieser Werke anzugehen.
Bei der Entgegennahme der Ehrendoktorwürde der Università della Basilicata im Jahr 2003 bekannte sich Claudio Abbado zu seiner Leidenschaft für Gesualdos Musik und regte eine Neuausgabe seiner Kompositionen an. Dies war für mich der Impuls, mich für die Schaffung einer Nationalausgabe sämtlicher Werke von Gesualdo da Venosa einzusetzen. Da zwei weitere Institutionen – die Fakultät für Musikwissenschaft der Universität Pavia-Cremona mit Maria Caraci Vela als Koordinatorin und das Istituto Italiano per la Storia della Musica in Rom unter der Leitung von Agostino Ziino – ein ähnliches Projekt vorgeschlagen hatten, war es selbstverständlich, die drei Initiativen zu einem gemeinsamen Vorhaben zusammenzuführen. Ebenso verstand es sich von selbst, Glenn Watkins, den eminenten Gesualdo-Experten und Herausgeber der ersten Edition, um die Übernahme der Leitung eines wissenschaftlichen Beirats zu bitten, der aus einigen der renommiertesten Gelehrten auf dem Gebiet der italienischen Renaissancemusik besteht: Iain Fenlon, Anthony Newcomb und Philippe Vendrix, gemeinsam mit den drei für die redaktionelle Betreuung zuständigen Vertretern der in diesem Projekt zusammengeschlossenen italienischen Institutionen (Caraci, Fabris und Ziino). Vorgesehen sind zehn Editionsbände, außerdem eine umfassende kommentierte Bibliographie zu jeder Quelle sowie ein Überblick über alle Archivdokumente. Mit der Herausgabe wurden größtenteils italienische Wissenschaftler betraut, wofür auch die Gründe ausschlaggebend waren, die Glenn Watkins jüngst in einem Tagungsbeitrag angeführt hat: „Mit Freude sehen wir, wie die Musik des Fürsten in die Hand seiner Landsleute zurückkehrt, denen dabei nicht nur ihre sprachliche und musikalische Kompetenz zugutekommt, sondern auch die Möglichkeit eines leichten und unmittelbaren Zugangs zu den originalen Quellen“. Der Bärenreiter-Verlag hat sich gern bereit erklärt, sich an diesem musikwissenschaftlichen Unternehmen von außerordentlicher kultureller Bedeutung zu beteiligen, das vielen künftigen Jahrzehnten Gesualdos Musik überliefern soll.
Die Basis dieser neuen Edition bildet, wie schon erwähnt, die Untersuchung der sechs Bücher mit fünfstimmigen Madrigalen, ausgehend von der Erstausgabe durch den Ferrareser Drucker Baldini (1594–1596) bzw. – für die letzten beiden Bücher – den neapoletanischen Drucker Carlino (1611). Die 1613 von Molinaro geschaffene Partitur, ein Unikum von großer historischer und interpretatorischer Bedeutung, bleibt für die Kollation jedoch weiterhin unverzichtbar. Während die Stimmbücher der Erstdrucke, einem Musizieren nach dem „tactus“-Prinzip entsprechend, keine Taktstriche aufweisen, findet sich in Molinaros Partitur die ungewohnte Einteilung in „caselle“, also durch Striche abgegrenzte Einheiten; um Ausführenden wie Wissenschaftlern einen bequemen Vergleich beider Gliederungsprinzipien zu ermöglichen, werden in der neuen Edition die von Molinaro eingeführten Gliederungsstriche über der jeweils obersten Notenzeile abgedruckt. Auch bei den Alterationen wird die Lesart des Erstdrucks wiederhergestellt. Zusätzlich zu diesen Quellen stützt sich die neue kritische Edition erstmals auf eine Untersuchung sämtlicher späterer Überlieferungsquellen von Gesualdos Kompositionen.
Bei den drei Büchern mit geistlicher Musik Gesualdos, die Carlino 1603–1611 herausbrachte (Sacrae Cantiones und Responsoria), gibt es keine vergleichbaren Kollationsprobleme, da hier eine vom Komponisten überwachte Druckausgabe einziger Überlieferungsträger ist. Watkins hat zu diesen Werken allerdings zutreffend bemerkt: „sie müssen dennoch erneut untersucht und als Sammlung mit derselben philologischen Sorgfalt wie die Madrigale publiziert werden“. Die vertonten Texte werden entsprechend den neuesten Editionsgepflogenheiten auf dem Gebiet der Renaissancemusik in einer doppelten Version geboten: einer literarischen im Apparat und einer weiteren in den Noten, um sowohl die literarische Analyse als auch die korrekte Wiedergabe durch die Ausführenden zu ermöglichen. Weitere, nur in Sammelhandschriften überlieferte Stücke sowie die wenigen Handschriften mit Instrumentalmusik werden zusammen in einem Band publiziert, der auch das einzige erhaltene Stimmbuch der postumen Madrigali a sei (1626) enthält. Eine heikle Frage bilden die fehlenden Stimmen im zweiten Buch der Sacrae Cantiones, das 1603 in Neapel von Carlino gedruckt wurde: Bei den zwanzig Motetten zu sechs oder sieben Stimmen fehlen die Stimmbücher von Bassus und Sextus. Strawinsky hatte seinerzeit für die Ugrino-Edition diese Stimmen teilweise ergänzt, verschiedene weitere Rekonstruktionsversuche folgten. Einer der wichtigsten stammt vom Atelier Virtuel de Restitution Polyphonique des Centre Etudes Supérieures de la Renaissance in Tours, mit dem sich gerade eine fruchtbare Zusammenarbeit in Hinblick auf die neue Edition der Werke Gesualdos entwickelt.
So wird hier eine moderne Edition entstehen, die eine philologisch korrekte Wiederherstellung des originalen Textes bietet, zugleich aber auch für heutige Interpreten – Spezialisten für historische Aufführungspraxis ebenso wie Studenten oder Amateure – eine unmittelbar aufführbare und mühelos lesbare Partitur bereitstellt; alle Informationen zur Rekonstruktion des Rezeptionsprozesses werden deshalb in die Apparate verwiesen. Wir sind sicher, dass diese Edition einen wichtigen Beitrag zur Musikphilologie darstellen wird und von ihr fruchtbare Impulse für den Dialog zwischen Musikwissenschaftlern und Interpreten Alter Musik ausgehen können.
Dinko Fabris
(aus: t[a]kte 2/2015)