Die Wiederentdeckung des Musiktheaters der Epoche Ludwigs XIV. passt in die aktuelle Landschaft einer neuartigen Theaterpraxis und einer Forschungsaktualität, die sich mit der Intermedialität der Feste am Hof des Sonnenkönigs und des Hofballetts, der Comédie-ballet und der Tragédie en musique intensiv auseinandersetzt. Die Einbeziehung von Parklandschaft, Architektur, Bühnendekoration, Kostüm, dichterischer Sprache, Musik und Tanz sowie die Interaktion von Komödie, Tragödie, Hofballett, italienischer und französischer Musik eröffnet für die Aufführungen auf heutigen Bühnen große Chancen.
In der kritischen Lully-Gesamtausgabe erschien 2003 die letzte Tragédie en musique Armide (hrsg. von Lois Rosow) mit Partitur, Stimmen und Cembaloauszug. Nach Aufführungen in Washington ist für Herbst 2008 eine Neuproduktion im Pariser Théâtre des Champs-Elysées mit Les Arts Florissants unter der Leitung von William Christie geplant. Die Tragédie en musique Thésée, die im Februar 2008 ebenfalls im Théâtre des Champs-Elysées durch Emmanuelle Haïm in der Inszenierung von Jean-Louis Martinoty aufgeführt wurde, ist zur Zeit in der Herstellung (hrsg. von Pascal Denécheau), ein Werk, das eine besonders komplexe Quellenüberlieferung hat, die in der Kritischen Ausgabe des Textbuchs und der Partitur ihren Niederschlag findet. Das Aufführungsmaterial der Kritischen Ausgabe des Thésée soll bis Ende 2008 verfügbar sein.
In der Serie der „Comédies-ballets” sind zwei Bände erschienen, ein weiterer Band ist in Form einer Aufführungspartitur und des Stimmenmaterials bereits fertiggestellt, ein vierter Band dieser Serie der Edition wird zur Zeit lektoriert und geht demnächst in die Herstellung. Die Tragédie-ballet Psyché (hrsg. von John S. Powell und Herbert Schneider) kam Ende 2007 heraus, der Cembalo-Auszug ist im Notensatz und das Stimmenmaterial in Vorbereitung. Am Textbuch dieses letzten Werkes der Zusammenarbeit von Molière und Lully waren drei der renommiertesten Theaterautoren der französischen Klassik beteiligt: Die vorzüglichen Dialoge des Werkes verfassten Molière und Pierre Corneille, die gesungenen Texte Philippe Quinault, der spätere Hauptlibrettist Lullys. Für eine Aufführung der Psyché benötigt man, wie bei den Comédies-ballets Monsieur de Pourceaugnac und Le Bourgeois gentilhomme (2006 in der Gesamtausgabe erschienen, hrsg. von Jérôme de La Gorce und H. Schneider) Schauspieler, die im Fall der Psyché Alexandriner vorzutragen haben. Musikalisch bietet das Werk in seinem Prolog und den fünf Intermedien Vokal- und Tanzmusik, die zum Besten gehört, was Lully komponiert hat, so z. B. eine italienische Klageszene mit Vokal- und Instrumentalsätzen, herrliche Chöre im Prolog und im Finale des fünften Akts, Ensembles und solistische Gesänge. Unter den Tänzen ragen Menuette und ausdrucksstarke pantomimische Tänze (Zyklopen-, Furien-, militärische und komische Tänze) hervor. Psyché ist ein Werk mit großen Kontrasten, die von tiefer Trauer bis zum militärischen Spektakel reichen. Zahlreiche Stücke gehörten zu den „Schlagern” ihrer Zeit.
Vom „Divertissement Royal” Les Amants magnifiques (hrsg. von Bruce Gustafson), einer Comédie-ballet von Molière mit einem mythologischen Stoff, liegen bereits eine Aufführungspartitur und das Stimmenmaterial vor. Dem 1. Akt geht das erste Intermedium voraus, in dem Ludwig XIV. in der Rolle Neptuns und im sechsten in der Apolls hätte auftreten sollen. Diese beiden Intermedien dienten wie die Opernprologe der Huldigung des Sonnenkönigs und der königlichen Propaganda. Das dritte Intermedium, das umfangreichste, ist eine Pastorale, das vierte besteht aus Pantomimen, im letzten werden Delphische Spiele vorgeführt. Für die Schauspielszenen benötigt man Schauspieler (Prosadialoge), für die Intermedien Sänger, Sängerinnen, einen Chor und Ballett.
Der Notensatz zweier weiterer sehr erfolgreicher und im heutigen Theater Erfolg versprechender Comédie-ballets von Molière und Lully, George Dandin und Les Plaisirs de l’île enchantée (hrsg. von Catherine Cessac), wird in nächster Zeit begonnen und soll bis 2009 abgeschlossen sein. George Dandin ist interessant durch den Gegensatz von beißender Sozialkritik der Komödie und abgehobener pastoral-mythologischer Welt der Intermedien, der gegenüber sich George Dandin als indifferent zeigt. Für die Aufführungen schuf Carlo Vigarani prachtvolle Bühnenbilder, die zusammen mit der Musik Lullys, Tänzen, Chören und solistischen Gesängen dem Werk seinen spezifischen Zauber verleihen.
Der erste Band der kirchenmusikalischen Werke mit dem berühmten, mit Pauken und Trompeten besetzten Te Deum und Lullys erstem „Grand Motet” Jubilate Deo (hrsg. von John H. Heyer) erscheint im Sommer 2008.
Die Orchesterpartituren der in der Lully-Gesamtausgabe edierten Werke spiegeln die aufführungspraktischen Bedingungen, wie sie Lully in den von ihm geleiteten Aufführungen praktizierte. Bekanntlich spielten dabei die Generalbassinstrumente in den Instrumental- und Tanzsätzen nicht mit. Deshalb erscheint eine Generalbassbezifferung lediglich in den Cembalo-Auszügen der Lully-Gesamtausgabe. Sie sind, kritisch überprüft, den handschriftlichen Quellen der Werke und besonders den posthum erschienenen Drucken entnommen, d. h. für Aufführungen, in denen aus klanglichen Gründen die Generalbassinstrumente in Tänzen oder Instrumentalsätzen benötigt werden, steht eine Bezifferung zur Verfügung, die eine gewisse Authentizität beanspruchen kann, da sie in relativer zeitlicher Nähe zur Werkentstehung und der französischen Aufführungstradition entstammen. Das Stimmenmaterial entspricht den Ansprüchen, die von den Vertretern der historischen Aufführungspraxis heute daran gestellt werden: auch in allen Instrumentalstimmen ist der gesungene Text eingetragen, so dass jeder Instrumentalist den dramatischen Verlauf und – besonders wichtig – die sprachliche Akzentuierung der Gesänge mit- bzw. nachvollziehen kann.
Herbert Schneider
(aus takte 1/2008)
Die ganze Pracht von Versailles. Neues von der Lully-Gesamtausgabe.
Jean-Baptiste Lully
Œuvres complètes. Georg Olms Verlag
Von allen edierten Werken sind die Partitur (mit wissenschaftlicher Einleitung, Anmerkungen zur Aufführungspraxis, Textbuch mit Einführung und Kritischem Bericht), der Cembalo-Auszug, das Stimmenmaterial, das Textbuch in elektronischer Form und in nächster Zeit auch Orchestersuiten für konzertante Aufführung durch Kammerorchester erhältlich. Der Verleih der Aufführungsmateriale erfolgt über die Alkor-Edition Kassel.
Photo: ”Thésêe" at Théâtre des Champs-Elysées, First Night 20.2.2008, Orchestre et Chœur Le Concert d'Astrée, Emmanuelle Haïm (Photo: Alvaro Yanez)