1967 erschien der erste Band der New Berlioz Edition. Die Gesamtausgabe wurde zu einem Musterbeispiel moderner Musikedition und hat bis heute große Auswirkungen auf die Praxis.
Ein Wagnis wird zur Erfolgsgeschichte
Vor fünfzig Jahren erschien im Bärenreiter-Verlag der erste Band der New Berlioz Edition, und bald sah man die vertrauten schwarzen Einbände in Benutzung bei den bekanntesten Orchestern in aller Welt. Das erste Werk der Reihe, die Symphonie funèbre et triomphale, wurde deshalb ausgewählt, weil sie weitgehend unbekannt, die Quellenlage hingegen relativ unkompliziert war. Möglicherweise wurde der schwarze Einband aufgrund der Trauerkomposition ausgewählt, ich bin mir nicht mehr sicher. Ich erinnere mich aber noch gut an das Auftaktkonzert, das 1967 vom Liverpool Philharmonic Orchestra unter Sir Charles Groves in Anwesenheit des französischen Botschafters gegeben wurde. Die Überreichung der Partitur sorgte bei den Anwesenden, die wussten, dass die letzte Korrektur der Partitur noch nicht abgeschlossen war und dass Seiner Exzellenz ein Band von ansprechend gebundenen leeren Seiten überreicht wurde, für Heiterkeit.
Ich hatte die Partitur selbst herausgegeben und damit akzeptiert, dass es besser sei, das Hauptwerk, Les Troyens, in drei Bänden erst herauszugeben, nachdem wir mit der Edition eines einbändigen Werkes erste Erfahrungen gesammelt hatten.
Es war eine erstaunlich visionäre Tat des Verlagsgründers Karl Vötterle, eine so monumentale Edition eines französischen Komponisten zu veröffentlichen, der zu dieser Zeit keineswegs als herausragende Figur der europäischen Musik galt. Seine Musik wurde in Deutschland nicht oft gespielt, und die Franzosen hatten wenig Interesse gezeigt, seine Werke zu studieren oder aufzuführen.
Es war ein mutiges Unternehmen, das, wie mancher sagte, von ein paar exzentrischen Engländern auf die Beine gestellt wurde. Aber es schien der richtige Zeitpunkt gewesen zu sein. Die zweibändige Biografie von Jacques Barzun, 1950 in Amerika erschienen, das Aufkommen der Langspielplatte sowie die hervorragende Neuproduktion von Les Troyens in Covent Garden 1957 unter Rafael Kubelik hatten erneutes Interesse an Berlioz hervorgerufen, das seither stetig zugenommen hat.
Mittlerweile ist es keine Sensation mehr, dass französische Musik im Bärenreiter-Katalog stark vertreten ist. Berlioz‘ große Werke werden regelmäßig von vielen führenden Dirigenten aufgeführt. Vor allem Les Troyens, das Werk, dessen größte Teile Berlioz selbst nie auf der Bühne gesehen hat, ist zu einem Werk geworden, das von keinem großen Opernhaus ignoriert werden kann. Als eine der wichtigen Opern des 19. Jahrhunderts steht es neben Tristan und Isolde und Otello.
Auch hinter La damnation de Faust steht eine interessante Geschichte. Es ist das einzige Werk, das in Frankreich anerkannt war und häufig gespielt wurde, zumindest bis zum Ersten Weltkrieg. In den letzten Jahren ist es bei Orchestern und Chören wieder zunehmend beliebter geworden und hat auch durch einige gefeierte Bühnenproduktionen, vor allem in London und New York, neuen Aufwind bekommen. Die Motivation hinter der ersten Bühnenproduktion, die 1893 von Raoul Gunsbourg in Monte Carlo vorgenommen wurde, war es, den farbenprächtigen Szenen und Charakteren in Berlioz‘ „dramatischer Legende“ Leben einzuhauchen. Die Tatsache, dass Berlioz das Werk nicht für die Bühne gedacht hatte, hielt die vielen Theater, die mit Inszenierungen folgten, nicht davon ab, die Darstellung von Auerbachs Keller und des Ritts in den Abgrund als äußerst verlockend anzusehen, ganz zu schweigen von Himmel und Hölle. Die Puristen haben immer darauf bestanden, dass Berlioz‘ Musik keine sichtbare Unterstützung benötigt: Die Musik selbst entfalte ihre eigene visuelle Wirkung und erreiche jeden, der etwas Vorstellungskraft besitze, auch wenn diese vielleicht nicht so lebhaft ist wie die des Komponisten.
Aber wir leben in einem visuellen Zeitalter, in dem alle täglichen Vorgänge sich auf einem Bildschirm abspielen oder dort vermeldet werden. Also warum nicht auch La damnation de Faust? Eine wortgetreue Inszenierung lag weder in der Absicht des Komponisten, noch ist es das, was heutige Regisseure wollen. Das Werk eignet sich perfekt für eine fantasievolle Inszenierung, die neue Sichtweisen auf die Handlung eröffnet, ohne dass die einzelnen Szenen exakt umgesetzt werden müssen. Neuere Produktionen waren in ihrer Interpretation oft sehr frei, so dass die Hörer Berlioz‘ Werk immer noch vor ihrem inneren Auge „sehen“ konnten.
Die New Berlioz Edition wurde 2006 abgeschlossen, zu einer Zeit, als ohne Übertreibung gesagt werden konnte, dass sie die Berlioz-Rezeption revolutioniert hatte. Selbstverständlich hat nicht nur die Edition zu der veränderten Sichtweise beigetragen, aber sie hat die Zugänglichkeit zu Berlioz‘ Werken vorangetrieben, bis hin zu den selten aufgeführten Chorwerken und Liedern. Als abgeschlossene Edition kann die Ausgabe als Beispiel für andere ähnlich monumentale Projekte dienen. Sie wird bereits in Universitätsseminaren zur Editionstechnik verwendet.
Als Editionsleiter habe ich die Grundsätze aufgestellt, denen die Edition zu folgen bestrebt war. Selbstverständlich muss eine solche Ausgabe sowohl den Bedürfnissen der Forschung als auch denen der Musikpraxis gerecht werden. Das ist nicht immer einfach. Musikwissenschaftler wünschen sich, dass Dirigenten den Kritischen Bericht lesen und die Lesarten studieren. Viele Dirigenten tun das auch. Die ausführenden Musiker in Theater und Konzert benötigen Hintergrundinformationen zur Musik, jedoch keine für sie nebensächlichen Details.
Ich habe mich daher bemüht, in den Vorworten die wichtigsten Informationen über Geschichte und Entstehung eines Werkes darzulegen und kritische Bewertungen über die Komposition zu vermeiden. Im Kritischen Bericht am Ende jedes Bandes war es mir wichtig, selektiv zu sein. Minimale Unterschiede in den verschiedenen Quellen sind praktisch nicht relevant, während es oft wirkliche Varianten gibt, mit denen der Musiker konfrontiert wird. Eines der Leitprinzipien war daher sicherzustellen, dass diese wichtigen Fragen nicht zwischen Trivialitäten untergehen. Die bessere Quellenzugänglichkeit auf Gallica (www.gallica.bnf.fr) und ähnlichen Webseiten ermöglicht es dem Musikforscher heute, die Details viel einfacher nachzuschlagen, als es früher möglich war.
Warum eine Gesamtausgabe?
Einige haben argumentiert, dass Berlioz bessergestellt sei als die meisten französischen Komponisten, dass Breitkopf & Härtel in den Jahren 1900–1910 eine Gesamtausgabe seiner Werke herausgebracht hatte und dass daher keine neue Edition notwendig sei. Ich selbst kann dieser Sichtweise einiges abgewinnen. Die Breitkopf-Ausgabe ist eine bemerkenswerte Leistung. Sie stellte Aufführungsmaterial für alle Orchester- und Chorwerke bereit. Wenn ich mir zum Beispiel Aufführungen der Ouvertüren anhöre, kann ich nicht unterscheiden, ob die Ausgabe von Breitkopf, Bärenreiter oder Costallat verwendet wurde. Einige der bedeutendsten Dirigenten, die eine Neuausgabe befürworteten, verwendeten in alter Routine weiterhin ihre älteren Partituren und Orchesterstimmen. Aber die nächste Dirigentengeneration hat gelernt, dass Berlioz-Partituren von Bärenreiter eine redaktionelle Genauigkeit und eine Praktikabilität garantieren, die bei den älteren Ausgaben nicht vorausgesetzt werden kann.
Die ursprüngliche Absicht, die beiden großen Opern, die Breitkopf nicht herausgebracht hatte, zu veröffentlichen, wurde verwirklicht. Les Troyens erschien 1969, Benvenuto Cellini folgte 1996. Die neue Verfügbarkeit führte zu einer neuen Beliebtheit der Werke. Les Troyens wurde mittlerweile in nahezu jedem großen Opernhaus der Welt inszeniert, und auch an zahlreichen mittleren und kleinen. Benvenuto Cellini konnte sich auf der Bühne erst mit der New Berlioz Edition etablieren: Seit der ersten Verwendung der Ausgabe 2002 in Zürich gab es zwölf Inszenierungen: 2003 an der Met in New York, 2004 in Gelsenkirchen, 2007 bei den Salzburger Festspielen, 2008 in Nürnberg (Wiederaufnahme 2016), 2014 an der ENO in London und in Münster, 2015 in Amsterdam, Barcelona, Bonn und Köln, 2016 an der Opera di Roma.
Auch Le Freyschütz wird immer häufiger in der französischen Fassung von Hector Berlioz aufgeführt: 2010 in Trier, 2011 an der Opéra-Comique in Paris, 2012 in Liberec, 2013 in Bern und Nizza sowie 2015 in Erfurt.
Benvenuto Cellini wird nicht als geichwertiges Meisterwerk wie Les Troyens anerkannt werden, aber die komplexe Entstehungsgeschichte musste entwirrt werden. Im Theater kann die Oper zweifellos eine elektrisierende Wirkung haben. Unsere Edition bietet einen Lösungsansatz für eine Oper, bei der viele Überarbeitungen des Komponisten existieren, von denen jede für sich auf die Bühne gebracht werden könnte. Es ist jedoch keine leichte Aufgabe, und ich erhebe nicht den Anspruch, unser Lösungsansatz sei der einzige oder gar der beste.
Ein Triumphmoment der New Berlioz Edition war 1993 die Veröffentlichung von Berlioz‘ erstem großen Werk, der Messe solennelle, die als verschollen galt. Durch einen glücklichen Zufall wurde das Autograph in einer Kirche in Antwerpen entdeckt und der ersten Wiederaufführung seit 1827 folgten weltweit viele weitere. Es liegt im Bereich des Möglichen, dass in den kommenden Jahren weitere verschollene Werke entdeckt werden. Möglicherweise ist die Arbeit der New Berlioz Edition nicht so vollständig und abgeschlossen, wie wir meinen.
Hugh Macdonald
Editionsleiter der „New Berlioz Edition”
(aus [t]akte 1/2017)