Händels spätes Oratorium in englischer Sprache Solomon glänzt nicht durch eine mitreißende Handlung, sondern durch musikalische Tableaus von großer Vielfalt. Nun ist das umfangreiche Werk in der Gesamtausgabe erschienen.
Salomos Tempel, das Salomonische Urteil, das Hohe Lied Salomos – vielfältige Spuren hinterließ der König von Israel und Juda in der Geschichte und in unserer kollektiven Erinnerung. Händels Oratorium Solomon von 1748/49 (Textdichter unbekannt) ist das erste Drama der Musikgeschichte, das alle diese Spuren aufgreift, ein Drama daher in Bildern, in Episoden. Es ist das einzige unter Händels alttestamentlichen Oratorien ohne durchgehende Handlung. Wer Händel als einen der größten Dramatiker der Musikgeschichte schätzt, wird sich diesem Werk folglich mit gedämpften Erwartungen nähern. Aber er wird erstaunt sein über den musikalischen Reichtum.
Erstaunlich ist bereits der äußere Rahmen: Selten verfügte Händel über so viele Chorsänger, dass er Doppelchöre schreiben konnte. In keiner anderen Saison konnte er neben der vollen Bläserbesetzung so viele Streichinstrumente einsetzen, dass er zusätzliche Stimmen für einen gelegentlich verstärkenden Streicherchor, ein Ripieno, ausschreiben ließ. Wie die Säulen des Tempels gliedern mächtige Doppelchöre zum Ruhme Salomos und zum Lobe Gottes das Werk. Aber auch das Intime hat seinen Platz: Wie in den Strophen des Hohen Liedes zwei Liebende einander preisen, so versichern sich Salomo und seine junge Ehefrau, die Tochter des ägyptischen Pharaos, in Arien und einem Duett ihrer Zuneigung, eine Szene, deren Höhepunkt im Zedernhain Händel unseren Blicken entzieht, die er aber in dem köstlichen Schlummerchor zu Nachtigallengesang unseren Ohren nicht vorenthält.
In der Mitte des zweiten Bildes und damit des ganzen Werkes stehen der Rechtsstreit der beiden Mütter um ein neugeborenes Kind und Salomos überraschende Methode der Wahrheitsfindung. Mit dem Terzett der streitenden Parteien und des Richters, mit der Arie, in der der Entschluss der wahren Mutter heranreift, durch ihren Verzicht das Leben ihres Kindes zu retten, weist diese Szene weit in die Zukunft des Musikdramas.
Ausdruck friedlicher Außenpolitik ist die in vielen Quellen überlieferte Geschichte vom Besuch der Königin von Saba in Jerusalem, die den Inhalt des dritten Akts bildet. Die Szene gehört zu den Höhepunkten des Werks. Auch sie ist mit dem Thema des Friedens verbunden, indem sie in aufwühlenden Chorsätzen eine Schlacht und den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen schildert, diese aber in eine Demonstration der beruhigenden, Frieden stiftenden und beglückenden Wirkung der Musik einbettet.
Die neue Edition im Rahmen der Hallischen Händel-Ausgabe geht mit ihren Anhängen zum ersten Mal über die Wiedergabe der Fassung von 1749 hinaus, und zwar in zweifacher Weise: Sie enthält erstens die umfassende inhaltliche und musikalische Neufassung des Oratoriums, die der erblindete Händel 1758/59 zusammen mit seinem Schüler John Christopher Smith erarbeitete. Vielleicht fühlte Händel, dass er mit der Episodenstruktur des Oratoriums seiner Zeit vorausgeeilt war; denn mit seiner Bearbeitung verzichtete er auf den ersten Akt und versuchte, zwischen dem zweiten und dritten einen inhaltlichen und personellen Zusammenhang herzustellen.
Ferner enthält der Band Sätze, die Händel vor der Uraufführung verwarf. Neben einer im Entwurfsstadium fragmentarisch überlieferten und vom Herausgeber rekonstruierten Tenorarie gehört dazu das große Chorfinale des zweiten Akts. Händel hatte es in zwei Schritten auf eine Länge von weniger als einer Minute gekürzt, was so noch in keiner Ausgabe bisher berücksichtigt worden ist. Nach den Höhepunkten dieses Akts und im Rahmen des ganzen Werkes ist Händels radikaler Schnitt verständlich. Aber für sich genommen ist dieses Chor-Rondo mit Strophen für die beiden Halbchöre und einer ländlich-idyllischen Sopranarie eine Wiederbelebung wert. Es könnte auch der Abschluss einer separaten Aufführung des zweiten Akts sein, die sich unter dem Titel „Das Urteil Salomos“ in Anbetracht seiner abgeschlossenen Handlung rechtfertigen ließe.
Hans Dieter Clausen
(aus [t]akte 1/2014)