Il Giasone
Il Giasone von Francesco Cavalli (1602–1676) nach einem Libretto von Giacinto Andrea Cicognini (1606–1650) war wohl die erfolgreichste Oper des gesamten 17. Jahrhunderts. Ihre Premiere fand Karneval 1649 in Venedig am Teatro San Cassiano statt, dem ältesten der vier aktiven Opernhäuser der Stadt. Zu jener Zeit waren in Venedig die öffentlichen Opernaufführungen bereits seit über einem Jahrzehnt ein gut laufendes Geschäft. 1637 hatte eine kleine reisende Gruppe im Umfeld der Karnevalsfeiern eine Oper in San Cassiano produziert, die für diesen Anlass von der Eigentümerfamilie von einem Prosastück zu einem „theatro de musica“ umgearbeitet worden war. 1639 wurde ein zweites Opernhaus eröffnet, dann ein drittes (1640) und ein viertes (1641). Innerhalb weniger Jahre war die Oper zu einem regelmäßigen Ereignis im Karneval geworden. Weitere Theater kamen hinzu, so dass am Ende des Jahrhunderts insgesamt neun Opernhäuser bespielt wurden.
Von 1639 an steuerte Cavalli in jeder Saison regelmäßig Opernpartituren bei. Als er schließlich 1668 seine Theateraktivitäten beendete, hatte er über 30 Opern für fünf verschiedene Theater komponiert und einige davon auch selbst geleitet. Dabei hatte er mit über einem Dutzend verschiedener Librettisten zusammengearbeitet. Cavallis Opern hatten seinen Ruhm weit über Venedig hinaus verbreitet.
Von all seinen Opern war Il Giasone, die zehnte, die sicherlich erfolgreichste. Tatsächlich war sie so erfolgreich, dass das Libretto allein in der ersten Saison fünf verschiedene Ausgaben erfuhr; eine Wiederaufnahme war für das Frühjahr geplant. Bezeichnenderweise reiste diese Oper im darauf folgenden Jahrzehnt die italienische Halbinsel herauf und herunter und wurde irgendwann nach 1651 vielleicht sogar in Wien aufgeführt. In unterschiedlichen Fassungen konnte sie auch noch in den 1660er- und 70er-Jahren gehört werden. Eine Wiederaufnahme in Brescia 1690 unter dem Titel Medea in Colco war die letzte bekannte Produktion einer Cavalli-Oper im 17. Jahrhundert. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hielt die Öffentlichkeit Giasone für das Beste, was die venezianische Oper zu bieten hatte.
Das Libretto bezieht seinen historischen Hintergrund von den Ereignissen um Jasons sagenumwobener Suche nach dem Goldenen Vlies, die mit neu ausgedachten Sachverhalten und Charakteren erweitert wurde, um die Fülle an Intrigen und das Happy End zu liefern, das vom venezianischen Publikum erwartet wurde. Der dem üblichen Standard folgende Handlungsstrang konzentriert sich auf zwei Paare adliger Liebender – Giasone/Isifile und Medea/Aegeus –, die aufgrund verschiedener Verwicklungen voneinander getrennt, aber schließlich wieder vereint werden. Die Liebenden werden von einer Schar komischer Diener unterstützt und angestiftet, insgesamt fünf, die viele der Standard-Charaktere verkörpern: die Kammerfrau (Alinda), die selbst dem Liebeswerben frönt, der geile Edelmann (Orestes), der sich, Leporello-ähnlich, über seine Dienerschaft beklagt, der Mitwisser und Handlanger (Bessus), die derbe, alte Amme, die ihrer verlorenen Jugend nachtrauert (Delpha) und der stotternde Bucklige (Demos, Tenor).
Dadurch, dass antike Momente mit rührenden Szenen kombiniert werden, ermöglicht die große und lebendige Besetzung jede nur denkbare Komplikation, die in der Handlung einer Auflösung entgegen steht. Den Zuschauern werden viele Szenen- und Arientypen geboten, die sie erwarten: eine Beschwörung, verschiedene Lamenti, drei verschiedene Schlafszenen, eine Wahnsinnsszene sowie einige Bühnenlieder.
Vielleicht ist die musikalisch-dramatische Überzeugung das bemerkenswerteste Merkmal von Giasone, die Balance, die das Werk zwischen Rezitativen und Arien erreicht, zwischen Gesprochenem und Gesang, Aktion und Gedanke. In diesem Werk machen Rezitative vor allem dann Arien Platz, wenn die Handlung dies erfordert. Tatsächlich ist Il Giasone eines der letzten Werke des späten 17. Jahrhunderts, das jene Art der Verbindung von Musik und Drama darstellt, die die erfolgreichsten Monumente der Operngeschichte auszeichnet.
Ellen Rosand
(Übersetzung: Jutta Weis)
L’Artemisia
„Ich habe mich um nichts anderes bemüht, als euch die Eigenschaften der menschlichen Leidenschaften auf natürliche Weise darzubieten“: Dies schrieb Cavallis Librettist Nicolò Minato im Vorwort zu L’Artemisia an das Theaterpublikum, um dann den Wunsch anzuschließen, das Publikum möge die Oper doch lieber auf der Bühne sehen, anstatt nur das Libretto zu lesen.
Diesem Wunsch wird das Publikum um so lieber Folge geleistet haben, als die Musik der Oper von keinem Geringeren als von dem seinerzeit berühmtesten und beliebtesten Opernkomponist überhaupt stammte. Francesco Cavalli war überdies besonders an der Darstellung der Leidenschaften, wie überhaupt der Charakteristika seiner Figuren interessiert; und so erwies er sich in der Tat als idealer Partner Minatos in der Vertonung der Oper. Mit Artemisia hatten die beiden ohnehin eine überaus geeignete Person für ihre Vorstellungen gewählt, galt sie doch im 17. Jahrhundert als Emblem einer starken und unabhängigen, dabei ihrem Gatten Mausolos besonders treuen Frau, die diesem auch nach seinem Tod noch so ergeben blieb, dass sie sogar seine Asche getrunken haben soll, um weiterhin mit ihm verbunden zu bleiben.
Was nun, so fragten sich Cavalli und Minato, wenn sich eine solche Frau mit einer neuen Liebe konfrontiert sieht, noch dazu zu einem sozial tieferstehenden Mann? Und wenn sich dieser Mann dazu noch als derjenige entpuppte, der ihren Ehemann umgebracht hat? Vor diese Probleme gestellt, muss sie sich mit ihrem Selbstbild und mit ihrer Rolle als Königin auseinandersetzen, was Cavalli meisterhaft dazu nutzt, die inneren Konflikte und ihren Persönlichkeitswandel musikalisch darzustellen. Am Ende steht dann die Erkenntnis „Vergib meinen Feinden“; Kriege werden abgesagt, Gegner beschwichtigt und – schließlich ist man im Barock – Ehen geschlossen.
Die Handlung wird belebt durch das ganze barocke Personal aus eifersüchtigen Liebhaberinnen und Liebhabern, lautstark auftretenden und dann wieder kleinmütigen Generälen, einem Gespenst, aufsässigen und unzuverlässigen Dienern und ihrer verlorenen Jugend nachtrauernden Ammen, das Cavalli und Minato auf originelle Weise in die Handlung einzuweben wissen. Dabei sind, ähnlich wie in den Komödien Shakespeares, ernste Themen stets humorvoll, komische Szenen immer auch mit einem gewissen Ernst vorgetragen, so dass das Publikum gleichermaßen unterhalten und gerührt wird.
Dies geschieht musikalisch in Cavallis ausdrucksstarker Tonsprache, die mit kleinsten Mitteln größte Effekte zu erzielen vermag. Die Vielfalt der Leidenschaften und insbesondere deren Wechsel wird in der Musik von der Reichhaltigkeit der Ausdrucksformen gespiegelt, die zwischen trockenstem Rezitativ und großer Arie eine Bandbreite an Möglichkeiten bereithält, wie sie in der Operngeschichte wohl einmalig ist. Gegenüber den heutzutage üblicherweise aufgeführten früheren Opern Cavallis (wie etwa La Didone, Giasone oder La Calisto) zeichnet sich Artemisia vor allem durch eine noch größere Souveränität in der Gestaltung und dem Gebrauch von Arien aus, die der Komponist dazu nutzt, Personen und Situationen liebevoll und genau darzustellen. Diese eher reflektierende Funktion seiner Arien weiß er allerdings geschickt in den Handlungsstrang zu integrieren, so dass zwischen Arie und Rezitativ keinerlei inhaltliche Brüche zu erkennen sind. So stehen auch große Arien nicht für sich, sondern sind Teil des Ganzen – wie etwa auch die Arie „Ardo, sospiro, e piango“, die durch Raymond Leppards vielbeachtete Calisto-Aufführung in Glydebourne im Jahr 1970 und gesungen von Dame Janet Baker bekannt geworden ist.
L'Artemisia wurde im Januar 1657 in Venedig uraufgeführt und erwies sich – nach allem, was wir wissen – als ein großer Erfolg. Die moderne Erstaufführung wird am 26. Juni 2010 beim Festival in Hannover-Herrenhausen durch Claudio Cavina und La Venexiana stattfinden. Sie liegt nun erstmals in moderner Edition vor.
Hendrik Schulze
(aus [t]akte 1/2010)
Francesco Cavallis „L’Artemisia“
Francesco Cavalli
Il Giasone. Dramma musicale
Libretto von Giacinto Andrea Cicognini.
Hrsg. von Ellen Rosand
Erstaufführung nach der Neuausgabe: 24.4.2010 Chicago Opera Theater, Musikalische Leitung: Christian Curnyn, Inszenierung: Justin Way
Personen: Sole (Sopran), Amore (Sopran), Giasone (Alt), Ercole (Bass), Besso (Bass), Isifile (Sopran), Oreste (Bass), Alinda (Sopran), Medea (Sopran), Delfa (Alt), Rosmina (Sopran), Egeo (Tenor), Demo (Tenor), Giove (Bass), Eolo (Alt), Zeffiro (Sopran) – Chor: Götter, Argonauten, Soldaten, Schiffer
Instrumente: Streicher (3-st., im Prolog 5-st.), Basso continuo
Verlag: Bärenreiter. Aufführungsmaterial leihweise
Francesco Cavalli
L’Artemisia. Dramma per musica di Nicolò Minato
Hrsg. von Hendrik Schulze.
Erstaufführung nach der Neuausgabe: 26.6.2010 Hannover-Herrenhausen (Festwochen), La Vene-xiana, Leitung: Claudio Cavina, Inszenierung: Paolo Reggiani; Französische Erstaufführung: 24.7.2010 Montpellier (Festival de Radio France)
Personen: Artemisia, Königin von Caria (Sopran), Meraspe, Prinz von Kappadokien (Alt), Oronta, Prinzessin von Zypern (Sopran), Alindo, Prinz von Bitinia (Alt), Artemia (Sopran), Ramiro (Sopran), Eurillo (Sopran), Niso (Alt), Erisbe (Tenor), Indamoro (Basso), Der Schatten des Mausolos (Bass), Echo I (Sopran), Echo II (Sopran)
Instrumente: 2 Violinen, [Viola], Basso continuo
Verlag: Bärenreiter. Aufführungsmaterial leihweise