Die Quellenlage bei Bachs h-Moll-Messe ist kompliziert. Um eine praktikable Aufführungsfassung herzustellen, müssen Kompromisse gemacht werden. Uwe Wolf schildert, wie er bei seiner Edition vorgegangen ist.
Bachs Handschrift wurde „geröntgt“. Die Verwendung eines modernen naturwissenschaftlichen Verfahrens half, dem Geheimnis von Bachs h-Moll-Messe näherzukommen. Wie das? Der Tintenfraß im Autograph von Bachs lateinischer Messe – vor allem im Credo – ist legendär. Die Löcher, die das Autograph heute aufweist, sind allerdings mehr ein Symptom, das eigentliche Problem sind die vielen Korrekturen, die nicht nur die Lesbarkeit erheblich einschränken, sondern auch den Tintenfraß befördert haben. Korrigiert haben verschiedene Hände: neben Johann Sebastian vor allem Carl Philipp Emanuel Bach. Unser Interesse gilt damit nicht nur der letzten Lesart, sondern auch der Frage, wer korrigiert hat und was dort stand, ehe der Sohn Hand anlegte. Dabei helfen uns verschiedene Abschriften, die zwischen Johann Sebastians und Carl Philipp Emanuels Tod von dem Credo angefertigt wurden. Viele der Eingriffe lassen sich mit Hilfe früher Abschriften zwar nicht zweifelsfrei (es sind eben nur Abschriften, keine Fotografien!), aber doch mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder rückgängig machen. Gar nicht funktioniert dies allerdings bei der ersten Überarbeitungsschicht: Der Sohn ist das Autograph des Vaters gründlich durchgegangen, bevor er es ersten Kopisten zum Abschreiben gab; schon allein die Textierung der Abschrift (die genau der Revision des Sohnes folgt, einschließlich aller Lücken und Versehen) belegt dies mehr als hinreichend. Dieser erste Durchgang Emanuels war wohl auch dringend nötig, da manche Korrektur des Vaters noch nicht bis zu Ende ausgeführt war. Hier musste der Sohn noch vollendend tätig werden.
Alle Korrekturen, die wir nicht mittels der Abschriften als zu einer späteren Korrekturschicht des Sohnes gehörig ausmachen können und deren Urheber wir nicht mehr eindeutig erkennen können, stehen also ebenso unter dem Verdacht, vom Sohn herzurühren, wie all jene Stellen, die später Opfer des Tintenfraßes wurden.
Im Vorfeld der Ausgabe wurden daher zahlreiche der problematischen Korrekturen im Autograph mittels Röntgenfluoreszenzanalyse, einer zerstörungsfreien Methode der Tintenanalyse, untersucht. So konnten noch etliche Stellen Vater oder Sohn zugewiesen werden – mit einigen überraschenden Ergebnissen (die sich dann auch haben visuell am Autograph bestätigen lassen).
Es bleiben Zweifelsfälle genug! In der Neuedition im Rahmen der Neuen Bach-Ausgabe. Revidierte Edition (Bärenreiter 2010) ist daher im Credo alles in eckige Klammern gesetzt, was nicht sicher vom Vater stammt – sei es, weil es herausgebrochen ist, sei es weil der Befund des Vaters nicht mehr lesbar ist, sei es aber auch, weil hier vom „alten Bach“ eine nicht sinnvolle Lesart stand, die vom Sohn zu Recht korrigiert wurde. Besonders bei diesen Fällen ist natürlich auch immer ein Ermessensspielraum dabei. Was ist noch hinnehmbar, was wirklich falsch?
Die Sache mit den Stimmen
Die h-Moll-Messe ist zu Bachs Lebzeiten nie aufgeführt worden (der unfertige Zustand des Credo bestätigt dies noch einmal), folglich gibt es auch keine originalen Stimmen. Das kann bei Bach durchaus ein Problem darstellen, denn viele Dinge, vor allem im Blick auf die Aufführung, regelte Bach erst in den Aufführungsstimmen. Zwar gibt es solche zu Teil I (Kyrie und Gloria) und III (Sanctus), doch sie gehören jeweils zu anderen Werkfassungen, haben mit der h-Moll-Messe im Grunde nichts zu tun. Beim Sanctus liegt der Fall ziemlich einfach: Die erhaltenen Stimmen basieren auf einer anderen, früheren Partitur, haben also wirklich nur sehr indirekt mit der Messe zu tun. Und die Stimmen des Sanctus enthalten außer Bögen nichts, was in der Partitur substanziell fehlen würde. Hier konnten die Stimmen beiseitegelassen werden, lediglich Bachs Artikulationsmodell der frühen Fassung von 1724 wird in einer Fußnote mitgeteilt.
Bei Teil I ist alles komplizierter. Bach hatte diese sogenannte „Missa“ 1733 für den neuerwählten Kurfürsten Friedrich August II. geschrieben. Das Widmungsexemplar für den Kurfürsten umfasste aber nur die Stimmen, die Partitur behielt Bach zurück und integrierte diese 1748/49 in die Partitur der h-Moll-Messe. Partitur und Stimmen stehen also in einem direkten Verhältnis zueinander. Die Stimmen von 1733 entstanden außerhalb von Bachs Leipziger Dienst, beteiligte Schreiber waren entsprechend nicht Bachs Leipziger Kopisten, sondern einige Familienmitglieder und vor allem Bach selbst. Nun konnte Bach ganz schlecht Bach abschreiben, ohne etwas zu verändern, und so sind die Stimmen nicht nur überreich bezeichnet, sondern sie unterscheiden sich auch darüber hinaus in zahlreichen Details (auch Noten) von der autographen Partitur. Doch nicht genug: Als Bach gegen Ende seines Lebens die Partitur von 1733 zu Teil I der h-Moll-Messe machte, änderte er erneut, und zwar ganz anders und an anderen Stellen als 1733. Eigentlich ist klar: Die beiden Quellen haben sich so weit voneinander entfernt, man kann sie nicht einfach miteinander vermengen: Das Ergebnis wäre in jedem Fall ein Werk, das es so historisch nie gegeben hat. Leider ist Bachs Partitur von Teil I – wie so oft – ziemlich unvollständig. Es fehlen nicht nur die meisten aufführungspraktischen Bezeichnungen, es fehlen Angaben zur Instrumentalbesetzung im Kyrie II, die genaue Stimmführung der Flöten in den meisten Tutti-Sätzen und auch die Beteiligung der Fagotte ist außerhalb des Quoniam in der Partitur nicht geregelt. In den „Dresdner Stimmen“ von 1733 aber hatte Bach zu all diesen offenen Fragen Entscheidungen getroffen; Entscheidungen, die getroffen werden mussten, sollte nach dem Notentext musiziert werden. Ganz auf die Stimmen verzichten, wäre also auch keine geeignete Lösung.
Für meine Neuausgabe der h-Moll-Messe wurde der Notentext zunächst streng nach der autographen Partitur als Hauptquelle der gesamten Messe ediert, dann aber die zusätzlichen Stimmführungen und Bezeichnungen der „Dresdner Stimmen“ grau ergänzt. So entstand eine aufführbare Fassung mit allen notwendigen Informationen, aber die beiden Schichten bleiben optisch getrennt (und es wird deutlich, wie viel tatsächlich in der autographen Partitur fehlt!). Wie schon im Credo war auch hier Transparenz ein vordringliches Ziel – auch um „einfache“ Lösungen als Augenwischerei zu entlarven.
Natürlich funktioniert auch diese transparente Mischung nur mit Einschränkungen, denn überall da, wo sich die beiden Fassungen auseinanderentwickelt haben, ist eine Kombination kaum möglich.
Die Entscheidung Ulrich Leisingers, des ersten Herausgebers, der nach der NBArev wieder eine h-Moll-Messe vorgelegt hat, in Teil I allein den „Dresdner Stimmen“ zu folgen, ist sicher auch der Transparenz der NBArev geschuldet: Dort sieht man, wie erheblich man mischen müsste! Leisingers Beschränkung auf die Stimmen hat den Vorteil, dass er Teil I als „geschlossenes Ganzes“ vorlegen, den Stimmen wirklich kompromisslos folgen kann, einschließlich der oft eleganteren Lösungen, die Bach beim Ausschreiben der Stimmen gefunden hat. Erkauft wird dies allerdings durch die Abkopplung von Teil I von der autographen Partitur und deren Revision. Dabei sind es genau diese Revisionen, die Teil I in Bachs Spätwerk – und damit auch in die h-Moll-Messe − eingliedern, die die Sicht des gealterten und am Studium des Palestrinastils gereiften Bach zeigen.
Jede heutige Lösung ist notwendig ein Kompromiss, keine kann der Herausforderung der h-Moll-Messe in vollem Umfang gerecht werden, jede ist eine Annäherung, die als solche auch zu benennen ist – was sie immerhin von manch älterer Ausgabe positiv abhebt.
Uwe Wolf
(aus [t]akte 2/2015)