Cavallis Orione macht Spaß, gerade weil die Oper anders ist, als man für ein Werk aus der Mitte des 17. Jahrhunderts erwartet. Die Urtext-Ausgabe im Rahmen der Cavalli-Gesamtausgabe bietet die Basis für vergnügliche Aufführungen.
Marktmechanismen, wie sie ähnlich auch die heutige Unterhaltungsindustrie bestimmen, ließen Cavalli mehr als ein Jahrzehnt zögern, bis er Orione in Musik setzte – den Text eines jungen Dichters, dem der Ruhm (und seine römischen Beziehungen) im Jahr 1642 die Pforten der Lagunenstadt geöffnet hatten. Francesco Melosios Libretto war spritzig und geistreich, doch es hatte einen Fehler: Es war nicht „venezianisch“.
Melosio, der so geschickt höfische Verstellungskünste und Affektiertheiten zu demontieren verstand, teilte zweifellos eine damals in der Adriarepublik vorhandene Tendenz. Warum passte er also nicht in das Klima dieser Jahre? Der Dichter wirkt nicht nur „fremd“, sondern scheint losgelöst von seiner Zeit. Er selbst ist sich darüber völlig im Klaren: „Ich dichte aus bloßer Laune und … mag mich nicht an eine strikte Einhaltung der Regeln fesseln.“ Was uns heute als Vorzug erscheint, betrachtete Cavalli offenbar als Nachteil – bis zum Jahr 1649, als er Cicogninis Giasone vertonte, mied er „ungewöhnliche“ Libretti.
Zur Handlung: Blind vor Rachegefühlen, erreicht Orione während der Pythischen Spiele Delos. Dort erlangt der Halbgott durch Apollo das Augenlicht zurück und wird gerade dadurch zum Opfer, als er Dianas Schönheit erblickt. Die erwiderte Liebe löste unter den versammelten Göttern Eifersucht aus, die noch durch die Einfalt des Jungen und seines dummen Dieners angefeuert wird. Diana selbst bringt den Geliebten um, den sie nicht erkennt, unbewusst angestachelt durch ihren Bruder Apollo, der gerade eifersüchtig von den Finten der Venus und den Launen Cupidos zurückgekehrt ist.
Doch die größten Bedenken Cavallis galten vielleicht einem anderen „unvenezianischen“ Zug. Die Personen in Orione sind allesamt ein wenig exaltiert, ja geradezu unsympathisch. Melosios Zynismus zwingt den Zuschauer, mehr den Witz des Textes zu genießen, als sich rühren zu lassen. Ein intellektuelles Vergnügen, das viel Anerkennung, aber wenige Aufführungen verhieß. Außerdem heiratet am Schluss niemand, die Bösen werden nicht bestraft, und die Guten … nun, so richtig Gute gibt es in diesem Stück nicht. Der arme Orione stirbt in der Mitte des dritten Aktes, noch bevor er sich von seiner Leichtgläubigkeit befreien kann. Seufzer der Erleichterung aus dem Publikum? Vom Impresario waren sie jedenfalls nicht zu erwarten.
Trotzdem bleibt Orione ein amüsantes Libretto, und es wäre schade gewesen, es in der Schublade liegen zu lassen. 1653 entdeckt Cavalli den Text für Mailand wieder (nicht zufällig ein „ausländisches“ Theater), seine erste Auftragsarbeit für eine Bühne außerhalb Venedigs. Wahrscheinlich möchte man in Mailand also den spektakulären Erfolg des Giasone wiederholen, der vier Jahre zuvor aufgeführt worden war.
Nun ist die Zeit reif. Monteverdis L‘incoronazione di Poppea hatte inzwischen bewiesen, dass sich auch die Geschicke einer Verbrecherbande auf die Opernbühne bringen ließen; Cavallis Librettist Cicognini hatte einem erschlafften Genießer, einem Opfer seiner Hormonentladungen, die Ehre erwiesen; und die nicht für Minderjährige geeignete Calisto hatte in ihrem Verwirrspiel sexueller Äquilibristik gezeigt, dass die Protagonistin sterben konnte, ohne beim Publikum allzu heftige Reaktionen auszulösen. All diese Exzentritäten finden sich bereits in Orione, doch nun erscheinen sie wesentlich weniger subversiv.
Cavalli versucht gar nicht erst, die Dramaturgie des Librettos zu aktualisieren. Damit legt er sich keinen Verzicht auf, denn er weiß nur zu gut, dass die Kraft dieses Textes in der Sprache liegt. Der Komponist passt seinen Stil geschmeidig an das Libretto an, er führt vor, dass er schreiben kann, wie es ein Marazzoli oder ein Abbatini getan hätten – insbesondere in den dem fließenden Sprechen angenäherten Rezitativen – und demonstriert damit einerseits eine außerordentliche theatrale Sensibilität, andererseits aber auch ein übermäßiges Vertrauen auf die Intelligenz seines Publikums.
Tatsächlich erlebte Orione nur einen Höflichkeitserfolg (vielleicht auch deshalb, weil man in Mailand ungeschickte Eingriffe vorgenommen hatte). Die Kreuzung eines alten, aber innovativen Librettos mit einer modernen, aber abseits der Schemata stehenden Musik brachte eine vielgestaltige Chimäre hervor, die zu ihrer Zeit keine Wirkung entfalten konnte. Uns erlaubt sie jedoch mit ihrer sprachlichen Mehrschichtigkeit erstaunliche Einblicke in ihre Epoche. Gescheitert ist diese Oper einst, weil sie nicht auf ihre Eigenart verzichten wollte; den heutigen Hörern, die zu einer geduldigen Wiederentdeckung bereit sind, offenbart sich Orione auch nach Jahrhunderten noch frisch in seiner ganzen innovativen Verrücktheit.
Davide Daolmi
(aus [t]akte 1/2015 – Übersetzung aus dem Italienischen: Stefan Monhardt)