Nach ihrer Uraufführung 1656 war Francesco Cavallis L’Erismena ein großer Erfolg in Venedig. Auch eine englische Fassung entstand. Die Edition aus der Werkausgabe bietet Möglichkeiten zu einer Wiederentdeckung.
“One Opera I saw represented about 16 severall times; and so farr was I from being weary of it, I would ride hundreds of miles to see the same over again: nay I must needs confess that all the pleasant things I have yet heard or seen are inexpressibly short of the delight I had in seeing this Venetian Opera; and as Venice in many things surpasses all places elce where I have been, so are these Operas the most excellent of all its glorious vanities.”
Dies schrieb Robert Bargrave, ein musikalisch gebildeter englischer Kaufmann, in sein Reisetagebuch. Er hatte im venezianischen Karneval 1656 die Gelegenheit, dort zwei Opern zu sehen, beide aus der Feder Francesco Cavallis, des seinerzeit erfahrensten und berühmtesten Opernkomponisten in Venedig. Cavalli war zu dieser Zeit dem Teatro Santi Giovanni e Paolo der Familie Grimaldi verbunden, dem Ort, wo 1642 die Uraufführung von Monteverdis L’incoronazione di Poppea stattfand. Cavallis Xerse wurde dort in der Spielzeit 1654/55 aufgeführt, gefolgt von La Statira auf ein Libretto Francesco Busenellos, des Textautors der Poppea und einiger früherer Opern Cavallis. Aber Bargraves Eloge galt nicht La Statira, sondern der anderen Oper dieses Jahres: L’Erismena, die im Teatro Sant’Apollinare, einer der kleinsten Bühnen der Stadt, ihre Premiere erlebte. Das Textbuch stammt von Aurelio Aureli, einem Neuling an den venezianischen Theatern. L’Erismena wurde mit 32 Aufführungen während des Karnevals und dreizehn Neuinszenierungen an anderen italienischen Häusern innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte zu einer außergewöhnlich erfolgreichen Oper.
Aureli schuf für Cavalli ein Libretto, das Altes mit Neuem verband, mit komischen Charakteren wie einer alten Kinderfrau und mehreren männlichen und weiblichen Dienern. Der Text griff einige Ideen aus Busenellos Poppea auf, mehr aber aus Cavallis Ormindo von 1643, zu der Giovanni Faustini den Text geliefert hatte.
Erismena stellt wie Ormindo eine kokette, in zwei junge Männer verliebte Frau vor, die jedoch jeweils einem älteren König verbunden ist. Die Handlung trägt sich in Tauris (dem heutigen Täbris) zu. Auf der Suche nach ihrem geliebten Idraspe, der sie hat sitzenlassen, hat sich Erismena als Mann verkleidet und mit den Truppen ihres Geburtslandes Armenien gegen Medien gekämpft. Die Meder haben gesiegt. Bis fast zum Ende der Oper bleibt sie verkleidet, was dazu führt, dass sich Aldimira, jene kokette Frau, um des armenischen Kriegers willen von den drei Männern ihres Lebens lossagt: von Erimante, dem medischen König, und von den beiden Prinzen Idraspe (verkleidet als Erineo) und Orimeno. Aldimira ist ein typisches „Sexkätzchen“, aber ihre Verehrung für Erismena macht sie stark, sich der Liebe des Königs zu widersetzen und für Erismenas Leben zu kämpfen.
In der dramatischsten Szene der Oper reicht Erineo Erismena auf Befehl des Königs einen Becher mit Gift. Als sie den Becher empfängt, erkennt Erismena in Erineo den jungen Prinzen Idraspe, der sie in ihrer Heimat zurückgelassen hat und auf dessen Suche sie sich begeben hat. Sie überlebt, da sie in Ohnmacht fällt. Der König tritt auf, findet beide am Leben und erkennt in Erismena seine Tochter, die er gezeugt hatte, als er in Armenien lebte. Wie in den meisten venezianischen Opern endet auch in L’Erismena alles in Glück und Frieden.
Robert Bargrave verliebte sich in diese Oper und ließ eine Abschrift von Cavallis Partitur anfertigen. Nach seiner Heimkehr nach England erstellte er seine eigene Partitur und übersetzte das Libretto ins Englische. Diese Handschrift, die älteste erhaltene Partitur einer Oper in englischer Sprache, wurde 2008 von der britischen Regierung als „herausragend für die Erforschung der Musikgeschichte des Vereinigten Königreichs“ erklärt und von der Bodleian Library der Universität von Oxford erworben.
Die Ausgabe im Rahmen der Cavalli-Werkausgabe enthält kritische Editionen der italienischen und der englischen Fassung, die auf einer Partitur aus der Biblioteca Marciana in Venedig und Bargraves Partitur als Hauptquellen basieren. Daraus ergeben sich vielfältige Möglichkeiten für heutige Aufführungen dieser im 17. Jahrhundert von den Venezianern und vielen anderen so geschätzten Oper.
Beth Glixon
(Übersetzung; Johannes Mundry)
(aus [t]akte 2/2017)