Als 78-Jähriger schuf Georg Philipp Telemann sein Auferstehungsoratorium für Hamburg. Darin kann er aus der prallen Erfahrung seines langen Komponistenlebens schöpfen. Eine großartige Alternative für Passionskonzerte.
Am 23. April 1760 kündigte die Hamburger Presse an, dass in Georg Philipp Telemanns Drillhaus-Konzert vom 28. April neben der berühmten Donner-Ode TVWV 6:3a (Teil 1) und einem „Oster=Stück“ eine neue Komposition erklingen würde: „Christi Auferstehung bis zu dessen Himmelfahrt, nach einer neuen Poesie“. Dabei handelte es sich um das Oratorium Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, dessen „neue Poesie“ von Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) stammte, dem von Telemann im Alter bevorzugten Dichter. Ramler, der als Lehrer an der Berliner Kadettenanstalt wirkte, wurde von Arnold Schering zu Recht als der „gefeiertste Oratorienpoet dieser Zeit“ bezeichnet. Bevor Telemann das neuentstandene Libretto vertonte, hatte er bereits zwei Texte Ramlers in Musik gesetzt: das Passionsoratorium Der Tod Jesu TVWV 5:6 (1755, zeitgleich mit Carl Heinrich Graun) und die Weihnachtskantate Die Hirten bey der Krippe zu Bethlehem TVWV 1:797 (1759). Nach den Werken über die Geburt und die Passion folgte nun eines über Auferstehung und Himmelfahrt Jesu. Waren die erstgenannten Libretti für andere Komponisten entstanden, schrieb Ramler das dritte dieses Zyklus speziell für Telemann. Später wurde es u. a. auch von Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Friedrich Agricola vertont. Ramler selbst berichtete am 24. Februar 1760 in einem Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim etwas salopp über die Entstehung der Dichtung: „… ich habe ein feyerliches Versprechen von mir gegeben auf Ostern etwas fertig zu machen, woran sich ein alter Musikus todtsingen will. Herr Telemann, ein Greis von 78 Jahren, will seinen Schwanengesang singen, und dazu soll ich ihm die Worte vorsprechen.“ Was den „Schwanengesang“ Telemanns betrifft, so irrte Ramler: Bedeutende und überraschend moderne Werke wie Der Tag des Gerichts TVWV 6:8 sollten in den kommenden Jahren noch folgen. Hierzu zählen auch die dramatische Kantate Ino TVWV 20:41 und die Idylle Der Mai TVWV 20:40 nach Ramlers Dichtungen.
In Auferstehung und Himmelfahrt Jesu werden die in der Bibel geschilderten Ereignisse in sieben aus Rezitativ-Arie-Chor/Choral oder Rezitativ-Arie bestehenden Abteilungen untergliedert. Telemann setzt dem Werk eine düstere sarabandenartige Einleitung voran, es folgen eindringliche Chöre (z. B. die erschütternde Chorfuge am Beginn oder der prächtige Psalmchorkomplex zum Beschluss), bildhafte Accompagnati und großangelegte, mit wechselnden obligaten Instrumenten versehene Da-capo-Arien (mit deutlich kontrastierendem Mittelteil). Hervorzuheben sind die beiden Duette, von denen eines die konventionelle Form einer französischen Ouverture zeigt, das andere aber (Vater deiner schwachen Kinder) einen hochempfindsamen Ton anschlägt, von dem sich schon Telemanns Zeitgenossen zu Tränen rühren ließen.
Telemann experimentierte in seinen späten, meist für den Konzertsaal bestimmten Werken sehr bewusst mit den modernen Dichtungen von Friedrich Gottlieb Klopstock, Friedrich Wilhelm Zachariae und Ramler. Sie boten ihm Inspiration zu einem ganz eigenen musikalischen Ton, der sich auch im vorliegenden Oratorium manifestiert. Er entsteht aus einer Verschmelzung von älteren Formen und Stilmitteln mit einer modern anmutenden, sehr unmittelbar auf die empfindsame Dichtung eingehenden Motivik und Harmonik. Dabei maß Telemann sowohl der affektgemäßen als auch der deklamatorisch und agogisch genauen Umsetzung der dichterischen Vorlage eine hohe Bedeutung zu. Das Wort wird von seinem filigran ausgearbeiteten und mit Bedacht instrumentierten Orchestersatz nie überdeckt. Es entwickelt sich in der dicht und zugleich elegant gearbeiteten Komposition eine eigenständige Stilwelt, die nicht anders als „telemannisch“ zu umschreiben ist.
Telemanns Oratorium Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu ist eines seiner interessantesten, vielleicht auch besten Vokalwerke, das zudem auch für Chöre Anreiz bietet. Exemplarisch zeigt sich hier die bis ins Alter bestehende stilistische Wandlungsfähigkeit des Komponisten. Dem schon zitierten Christian Gottfried Krause ist wohl nicht zu widersprechen, wenn er mit Blick auf diese „unvergleichliche“ Musik schreibt, Telemann habe „in seinem 80. Lebensjahr gezeigt, daß er alles kann […]!“
Ralph-Jürgen Reipsch
(aus [t]akte 1/2017)