Wer braucht eine neue kritische Ausgabe von Il barbiere di Siviglia? Die Oper wird seit 1816 in Theatern in aller Welt aufgeführt und war nie von den Spielplänen verschwunden. Es gibt unzählige Aufnahmen dieses Werkes, und in den 1960er-Jahren wurde eine kritische Ausgabe veröffentlicht. Warum hat also Bärenreiter kürzlich eine von Patricia B. Brauner herausgegebene Neuedition vorgelegt, die als Vorab-Material den Theatern bereits seit 2008 zur Verfügung steht ? Im Februar 2008 wurde diese an der Lyric Opera in Chicago erstmals genutzt, wo die Oper unter der Leitung von Donato Renzetti, mit Joyce Di Donato, Juan Diego Flórez und Nathan Gunn in den Hauptrollen zur Aufführung kam. Zahlreiche weitere Inszenierungen haben in der Zwischenzeit stattgefunden und die nächste bedeutende Produktion, die das neue Aufführungsmaterial nutzt, ist für Juli 1009 am Londoner Royal Opera House Covent Garden geplant. Hier steht Chefdirigent Antonio Pappano am Pult.
Zwei Gründe sprechen für eine neue Ausgabe. Zum einen war keine der früheren Ausgaben von Rossinis Oper mit einem korrekten Urtext ausgestattet. Und zum anderen gibt es zu dieser Oper eine Menge bislang unveröffentlichten Materials, das für Wissenschaft und Praxis wertvoll ist.
Die letzte veröffentlichte Ausgabe von Il barbiere di Siviglia erschien vor etwa 40 Jahren. Sie stellte für die damalige Zeit eine gute Leistung dar, aber es handelte sich um den ersten Versuch überhaupt, eine italienische Oper des 19. Jahrhunderts in einer kritischen Ausgabe zu veröffentlichen. In der Zwischenzeit hat nicht nur die Rossini-Forschung große Fortschritte gemacht, es wurden auch generell die Editionstechniken in den vergangenen Jahrzehnten verbessert und verfeinert. Diesen Entwicklungen trägt die Neuausgabe in mehrfacher Hinsicht Rechnung:
1) Alle originalen Quellen wurden berücksichtigt, darunter auch fünf Manuskripte mit Rossinis eigenen autographen Verzierungen zu dieser Oper. Nicht ein einziges wurde für die frühere Ausgabe transkribiert.
2) Rossinis notationstechnische Eigenarten sind hier im vollen Umfang vom Herausgeber berücksichtigt. Die ältere Ausgabe behauptet unmißverständlich, dass die Secco-Rezitative von Rossinis Hand stammen. Jeder, der in den vergangenen 30 Jahren das autographe Manuskript studiert hat, weiß, dass die Rezitative von der Hand eines Kopisten sind, demselben Kopisten, der einige Zeit zuvor, aber in der gleichen Spielzeit, die Secco-Rezitative für Torvaldo e Dorliska erstellt hatte.
3) Die sorgfältige Überprüfung von Veränderungen im autographen Manuskript trägt zur Festlegung korrekter Lesarten bei. Ein besonders stichhaltiges Beispiel betrifft den Beginn von "Dunque io son'". Hier gleicht die frühere Ausgabe zwei Akkorde an, während Rossini den zweiten dieser Akkorde wegen eines neuen harmonischen Kontextes anders notiert hatte. Das Studium der autographen Veränderungen belegt diesen Vorgang eindeutig.
4) Rossinis Artikulationszeichen sind auf die Passagen beschränkt, für die sie ursprünglich bestimmt waren. Ein gutes Beispiel dafür ist "La calunnia". Die ältere Ausgabe appliziert Staccato-Punkte immer dann, wenn das Hauptthema auftritt, obwohl Rossinis originale Notation viel stärker differenziert.
In den ersten Takten der „Introduzione”, um weitere Beispiele aus der älteren Ausgabe zu nennen, ist die Kontrabassstimme eine Oktave zu tief notiert (was zu einer Notierung führt, die von Rossinis Instrument nicht zu spielen war). Eine höchst fragwürdige Unterscheidung zwischen „pizz.” und „arco” wurde eingeführt (so dass der Kontrabass an dieser Stelle anders spielt als an einer späteren Stelle in der Introduzione, wo diese Passage wiederkehrt), ein fp wurde angezeigt, wo Rossini f unter eine Note schrieb und p unter eine andere, und der doppelt punktierte Rhythmus einer markanten musikalischen Figur wurde immer als einfach punktierter Rhythmus notiert. Ähnliche Fehler finden sich in der gesamten Partitur.
Kompliziert: Die Überlieferung der Ouvertüre
In der Ouvertüre, für die kein autographes Manuskript mehr existiert, ist die Situation am kompliziertesten. Bereits die ältere Ausgabe ging davon aus, dass dieses berühmte Stück identisch mit der Ouvertüre von Rossinis früherer Oper Aureliano in Palmira ist, basierte aber nur auf einer einzigen Quelle dieser Oper. Die neue kritische Ausgabe berücksichtigte die Lesarten von 13 Manuskripten von Aureliano in Palmira und von sieben zu Il barbiere di Siviglia, in denen diese Ouvertüre enthalten ist (viele Quellen des barbiere weisen überhaupt keine Ouvertüre auf oder ersetzen sie durch eine andere, häufig durch die Ouvertüre von Il turco in Italia oder durch die überarbeitete Fassung der Ouvertüre zu Aureliano, die Rossini für Elisabetta, regina d’Inghilterra eingerichtet hatte). Das Ergebnis ist eine neue Ausgabe der Ouvertüre, die sich an vielen Stellen deutlich von früheren unterscheidet. Sorgfältig beachtet wird auch die Artikulation, worin die Herausgeberin den Markierungen folgt, die vom Komponisten zu stammen scheinen, anstatt Anweisungen ungeprüft über die gesamte Partitur zu setzen. Die neue Ausgabe erlaubt es den Ausführenden auch, entweder die originale Besetzung der Ouvertüre zu verwenden, die u. a. zwei Flöten, zwei Oboen und Pauken vorsieht, oder diejenige, die für den Rest von Il barbiere di Siviglia gilt (mit nur einer Flöte und einer Oboe ohne Pauken).
Eine Fülle an Zusatzmaterial
Eine Reihe von Anhängen in der neuen Ausgabe versorgt die Ausführenden mit Musik und Informationen, die in keiner anderen Ausgabe der Oper enthalten sind. In einigen wenigen Fällen ist ähnliches Material leihweise vom Verleger der früheren Ausgabe erhältlich, erscheint aber nicht in der gedruckten Partitur. Der erste Anhang umfasst alle Verzierungen der Gesangsstimmen, für die wir Manuskripte von Rossinis eigener Hand vorliegen haben. Dazu gehören vier unterschiedliche Variationen für Rosinas berühmte Cavatine „Una voce poco fa”, eine bedeutende Reihe von Variationen für Rosina in ihrem Duett mit Figaro („Dunque io son”) und – bislang noch nicht veröffentlicht – eine außergewöhnliche Zusammenstellung von Variationen und Kadenzen für Rosina in dem Terzett „Ah qual colpo”. Der zweite Anhang enthält eine Arie, die Rossini selbst seiner Partitur für die Sängerin Giuseppina Fodor-Mainvielle hinzufügte (vor der Gewittermusik), als diese die Partie im Frühling 1819 am Teatro San Samuele in Venedig sang. Diese Nummer ist vor allem dann hilfreich, wenn die Partie der Rosina von einer Sopranistin gesungen wird. Da diese nicht vollkommen neu ist (der letzte Abschnitt entstammt Rossinis Sigismondo), stellt „Ah se è ver“ eine reizvolle Komposition dar, die leicht einen Platz in einer passenden Inszenierung finden kann.
Weitere Anhänge präsentieren Material unterschiedlicher Provenienz: Appendix drei stellt eine Reihe weiterer Kompositionen bereit, die eine wichtige Rolle bei der Aufführungsgeschichte des Werkes spielen, beispielsweise die erste Alternative für die Unterrichtsszene, „La mia pace, la mia calma”, gesungen von der originalen Rosina in der ersten Neuinszenierung der Oper am Teatro Contavalli in Bologna im Sommer 1816; oder Pietro Romanis Arie „Manco un foglio”, die zuerst von Don Bartolo anstelle von „Un dottor della mia sorte” am Teatro Pergola in Florenz im Herbst 1816 gesungen wurde und später unzählige Male in die Oper eingearbeitet wurde. Der vierte Anhang enthält Material, das es Theatern erlaubt, eine Fassung wiederzugeben, die in Neapel zur Aufführung kam (mit der Rolle des Don Bartolo in neapolitanischem Dialekt). Ein letzter Anhang, vorbereitet unter Mitwirkung von Will Crutchfield, bietet eine große Auswahl von Verzierungen an, die in den ersten fünfzig Jahren der Geschichte dieser Oper bei Sängern gebräuchlich waren, alle sorgfältig datiert und beschrieben. Derartiges Material ist nicht dafür gedacht, Sängern vorzuschreiben, wie diese ihre Partie zu verzieren haben, sondern um auf Variationen und Kadenzen aufmerksam zu machen, die Sänger zu Rossinis Lebzeiten tatsächlich verwendet haben. Zum Vergleich: Die ältere Ausgabe enthält einige Verzierungen, die lediglich mit der Angabe versehen sind, man möge in dieser Weise varieren.
Schließlich berücksichtigt die neue Ausgabe die praktischen Erfordernisse der Theater und nimmt in das Leihmaterial die transponierten Fassungen der Cavatine der Rosina, der Arie des Basilio und der Arie der Rosina in der Unterrichtsszene auf, so dass Sänger, die die alternativen Tonarten einsetzen möchten (höhere Tonarten für Rosina, eine tiefere für Basilio), dazu auch in der Lage sind.
Philip Gossett
Generalherausgeber der „Works of Gioachino Rossini“
(Übersetzung Jutta Weis und Ulrich Etscheit)