Philipp Maintz hat sich in seinem Schaffen in den vergangenen Jahren intensiver der Orgel zugewandt. In einem Gespräch, das hier in Auszügen wiedergegeben wird, stand er seinem Lektor, Robert Krampe, Rede und Antwort.
Krampe: In einem Interview sagtest du einmal, dass deine Liebe zur Orgel auf eine Orgelbesichtigung zurückgeht, die du bereits im Alter von fünf oder sechs Jahren erlebt hattest. Was übte damals diese Faszination auf sich aus und was fasziniert sich noch heute an diesem Instrument?
Maintz: Das war nach einer Messe in unserer Pfarrkirche. Ich hatte meinen Vater gefragt, ob wir auf die Empore gehen könnten – und der Organist, bei dem ich dann später meinen ersten Klavierunterricht bekommen habe, hat die Orgel nochmal angeschaltet und uns etwas vorgespielt. Mich hat das gepackt und nicht mehr losgelassen.
An diesem Instrument fasziniert mich bis heute der Klang, den man spüren kann, wie bei keinem anderen Instrument. Dass man über große Räume, wie den einer Kathedrale, die akustische „Deutungshoheit“ haben kann. Natürlich auch die Möglichkeit, Farben in unendlichen Kombinationen zu mischen und jedes Stück wieder und wieder neu zu erfinden. Allerdings kann ich nicht verhehlen, dass ich auch den technischen Aspekt bis heute wahnsinnig spannend finde. Eigentlich gibt es kein Instrument, dass so sehr technologischen Fortschritt mit jahrhundertealter Bautradition verbindet. Wenn man mal durch ein Instrument geklettert ist, das die Größe eines Einfamilienhauses hat, ist das schon ein sehr eindrückliches Erlebnis.
An anderer Stelle hattest du geschrieben, dass die Orgel für dich der Grund war, mit dem Komponieren anzufangen. Waren deine ersten Kompositionsversuche dann auch gleich für dieses Instrument?
Meine unmittelbare Reaktion auf dieses Erlebnis als Sechsjähriger war, dass ich meinte, Orgelmusik schreiben zu müssen. Meine Begeisterung musste irgendwohin. Ich konnte nicht Klavier und erst recht nicht Orgel spielen, also war das für mich das naheliegendste Ventil – immerhin konnte ich Noten lesen, wusste von meinem Vater, dass man wohl drei Systeme brauche (rechte und linke Hand sowie Füße). Ich habe mir also Notenlinien gezogen und losgelegt.
Aber es ist schon so, dass dieses Instrument für mich bis heute der Urgrund des Musizierens und Musikmachens ist. Und Musik zu machen, ist wohl auch etwas, was für mich immer mit einer sakralen Konnotation, mit großem Ernst und deshalb auch einem Perfektionsanspruch verbunden ist.
Mit zwölf Jahren hast du deinen ersten Orgelunterricht erhalten und hattest auch gleich den Berufswunsch, Organist zu werden. Was hat dich davon abgebracht?
Eigentlich ist das ganz einfach: Ich wollte nicht irgendwo Organist werden – sondern an St. Sulpice in Paris, wo Charles-Marie Widor und Marcel Dupré Organisten waren. Blöderweise war der Posten schon besetzt – und da habe ich mir dann etwas anderes überlegen müssen. De facto war ich (leider) auch immer zu faul, ordentlich zu üben. Möglicherweise hat das dem auch ein wenig im Weg gestanden.
Wieso hat es schlussendlich so lang gedauert, bis dein erstes „offizielles“ Orgelstück entstanden ist?
Das kann ich nicht mehr genau sagen. Ich hatte jahrelang mit der Orgel gefremdelt, weil sie mir quer zu meiner Musiksprache nach dem Studium und zu Beginn des „Flüggewerdens“ zu stehen schien. Mit der ersten Fassung von „ferner, und immer ferner“ habe ich mich beim Schreiben sehr schwergetan. Ich hatte mich damals sehr in das Orgelthema hineingearbeitet – aber es wollte nicht so recht werden. Der Zufall wollte, dass ich damals in Paris gewohnt habe und Jean Guillou kennenlernen durfte. Auf seine Einladung hin verbrachte ich etliche Sonntagnachmittage bei ihm in Saint-Eustache an der Orgel. Irgendwann traute ich mich zu fragen, ob ich wohl auch mal auf der Orgel spielen dürfe. Ich durfte! Ich habe viele Nächte in dieser wundervollen Kirche verbringen und auf der Orgel experimentieren dürfen. In dieses Instrument und seine Klanglichkeit habe ich mich damals sehr verliebt. Dort habe ich dann „ferner, und immer ferner“ wie einen Pullover aufgeribbelt und neu zusammengesetzt.
„ferner, und immer ferner“ entstand in der ursprünglichen Fassung für die alte Orgel der Martinskirche in Kassel, gefolgt von „in nomine: coronæ“ für St. Michael in München und „septimus angelus“ für St. Sebald in Nürnberg. Jedes dieser Instrumente ist anders. Wie bist du damit beim Komponieren umgegangen? Woran orientiert sich Deine Klangvorstellung beim Schreiben?
Wenn ich ehrlich bin, höre ich beim Schreiben eigentlich nach wie vor die große Orgel von Saint-Eustache in meinem Kopf. Mir ist es aber schon gelungen, sie zu vergessen: zum Beispiel, als ich ein Stück für die Silbermann-Orgel der Dresdener Hofkirche geschrieben habe. Zusammen mit dem Organisten Maximilian Schnaus haben wir dort ganz dezidiert Klänge ausprobiert und erkundet, was man spielen kann – ein vollmechanisches Barockinstrument ist doch etwas ganz anderes als eins, in dem allerlei elektrische und elektronische Steuerungen versteckt sind, die alles möglich machen.
Am Ende ist es eigentlich fast egal, was für eine Klangvorstellung ich beim Schreiben im Kopf habe. Als Komponist kann ich immer nur die Hälfte abliefern; quasi eine schwarzweiße Zeichnung, die die Interpretin oder der Interpret vor Ort am Instrument an Hand der Gegebenheiten, die sie vorfinden, „kolorieren“ und eigentlich neu erfinden müssen. Beim ersten Mal ist das ein ziemlicher Aufwand, danach scheint sich eine Art von Routine zu entwickeln. Mir macht es Spaß, bei der Einregistrierung mitzuhelfen (wobei dann oft die „Klangvorstellung“ weniger wichtig ist als der Spieltrieb, welche Klänge man dort erzeugen und zusammenmischen kann). Ich finde es aber auch großartig, mich überraschen zu lassen. Orgelstücken sollte man doch auch ein eigenes Leben ermöglichen! Und je mehr sich das jemand anverwandelt, umso schöner finde ich das.
Bei deinen Orgelstücken fallen vor allem die außermusikalischen Bezüge auf: In „ferner, und immer ferner“ ein Text von George Bataille, in „septimus angelus“ und „de figuris“ der Stichzyklus „Apocalipsis cum figuris“ von Albrecht Dürer etc. Woher kommt diese Neigung zum Außermusikalischen und welche Auswirkungen hat sie auf deine Orgelmusik?
Die Neigung, sich außermusikalisch inspirieren zu lassen, gibt es eigentlich bei jedem Stück, das ich schreibe. Witold Lutosławski hat mal gesagt, Komponisten hörten immer nur das, was sie gerade hören wollen – immer im Hinblick auf das, was sie gerade beschäftigt. Ich glaube, ich nehme die ganze Welt so wahr. Alles, was von außen kommt, hinterlässt eine Resonanz. Oft ist das sehr diffus und für mich erst gar nicht wirklich greifbar. Dann sind solche Bezüge auf Außermusikalisches wohl so eine Art Staubkorn in der Luft, um das herum sich die Wolke kristallisiert und abregnen kann.
Wenn ich es mir recht überlege, stelle ich fest, dass es in Batailles Zitat um eine Welt geht, von der Gott sich abgewandt hat, in „in nomine: coronae“ geistert Bachs Choralbearbeitung von „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ herum, Dürers Stichzyklus beschwört die Apokalypse. Will man es ganz kurzfassen: Offenbar geht es immer wieder um das Ende der Welt – das war mir bisher nicht so ganz klar. Wahrscheinlich ist jeder Künstler ein Kind seiner Zeit und kann sich ihr auch nicht entziehen.
„de figuris“, dein „konzert für orgel und großes orchester“ kann als ein Höhepunkt in deinem Orgelschaffen angesehen werden. Gab es besondere Herausforderungen bei der Arbeit, die Orgel, die ja durchaus eine orchestrale Anlage hat, mit einem großen Sinfonieorchester zu verbinden?
Also eigentlich verbindet das Orgelkonzert zwei Dinge, die mir liegen und auch wahnsinnig Freude machen: Orchester (ich puzzele sehr gerne Instrumentationen aus) und die Orgel. Es war beim Schreiben eher so, wie wenn ich als Kind mit Anlauf in eine große Pfütze gesprungen bin. Einmal alles! Und davon reichlich!
Was ist das Besondere an „de figuris“?
Eine Orgel im Konzertsaal klingt anders als in einer Kirche. Das habe ich von vorneherein einkalkuliert: Das Orchester übernimmt zum Teil die Funktion des nachhallenden Raumes. Aus der Idee des Miteinanders von Orgel und Orchester heraus hat sich ein Stück entwickelt, das wie ein großes Panorama voller Farben ist. Der Orgelpart bietet dem Solisten reichlich Gelegenheit, seine Registrierkunst auszuschöpfen und so einige reizvolle Effekte, die eher unüblich sind, innerhalb der halben Stunde unterzubringen, die das Stück dauert.
Seit 2017 schreibst du an einem großangelegten Projekt von 63 Choralvorspielen, die du in drei Abteilungen mit entsprechenden Unterpunkten gliederst: Kirchenjahr, Anlässe und Liturgie. Ursprünglich hattest du das Projekt nur zum eigenen Spaß angefangen („jeden Sonntagabend eins“, wie du geschrieben hattest – wie lange hast Du das durchgehalten?), inzwischen liegen 14 ausgewachsene Stücke vor. Nach welchen Kriterien hast du die Choräle ausgesucht?
Nun ja, durchgehalten habe ich zwei Sonntage: „So nimm denn meine Hände“ und „O Haupt voll Blut und Wunden“ sind an je einem Abend entstanden. Das dritte hat dann schon mehr als einen Sonntag gebraucht – es war also zunächst ziemlich Freistil und ohne rechten Plan. Um eine Form in den ganzen Zyklus zu bringen, habe ich einen befreundeten, katholischen Geistlichen, der höchst musikaffin ist, gebeten, mir einen Plan zu machen. Zwei Tage später hatte ich eine To-do-Liste mit 62 Choralmelodien. Als „Öcher Printe“ habe ich dann noch eine 63. über die Aachener Karlssequenz „Urbs Aquensis, urbs regalis“ hinzugefügt – diese Duftmarke muss sein!
Johann Sebastian Bach schrieb sein vergleichbares Projekt, das „Orgelbüchlein“, damit „einem anfahenden Organisten Anleitung gegeben wird, auff allerhand Arth einen Choral durchzuführen“. Verfolgst du ähnliche „pädagogische“ Ziele mit Deinem Projekt?
Also bei den ersten beiden habe ich noch an einen liturgischen Gebrauch gedacht. Das sind Stücke sehr handlicher Spieldauern von ca. drei Minuten. Mittlerweile haben sich diese Stücke zu ausgewachsenen Konzertstücken entwickelt, die zum einen deutlich länger dauern und zum anderen recht virtuos geworden sind. Es macht mir aber auch einen Riesenspaß (und ich ziehe da einen Gutteil der Inspiration heraus), auf Wünsche und Bedürfnisse der Uraufführungs-Interpreten oder den Gegebenheiten ihrer Orgeln einzugehen: Die Konzertorganistin Angela Metzger hatte sich ein Choralvorspiel gewünscht, bei dem sie ein Farbenfeuerwerk anrichten kann (Nr. XXXII, „Wer nur den lieben Gott läßt walten“); Hansjörg Albrecht hat sich etwas gewünscht, was leicht ist, weil er sich die Uraufführung sehr kurzfristig überlegt hat (Nr. XIX, „Wie schön leucht’ uns der Morgenstern“); Marcel Andreas Ober wollte „ein Brett mit vielen Noten, gerne pianistisch“ haben (Nr. XIII, „O filii et filiae“); wiederum Martin Lücker hat mich gleich um eine Weihnachts-Trias gebeten (Nr. III, IV und VI), bei deren Entstehen wir uns sehr eng ausgetauscht haben, was ich als sehr spannend empfunden habe. Es gibt eigentlich zu jedem dieser Stücke eine kleine Geschichte rund um die Entstehung. „Pädagogisch“ sind meine Ziele aber wohl eher nicht.
Bach hat nach ca. zehn Jahren die Arbeit an seinem „Orgelbüchlein“ aufgegeben und es unvollständig hinterlassen. Wie sind Deine weiteren Pläne für dein Projekt?
Ich habe vor, in etwa zehn Jahren endlich fertig zu sein. Insofern ist mein Plan: Weiterschreiben, einfach weiterschreiben, bis ich fertig bin! Das Ganze hat eine interessante Eigendynamik entwickelt, so dass eigentlich permanent mindestens eins dieser Stücke auf meinem Schreibtisch liegt.
Neben den Choralvorspielen planst du inzwischen einen neuen Zyklus von Stücken, die explizit für „Orgeln im Konzertsaal“ sein sollen. Wie unterscheiden sich Konzerthausorgeln und Kirchenorgeln? Gibt es Unterschiede beim Komponieren und was wird diese Stücke musikalisch und stilistisch von deinen Choralvorspielen unterscheiden? Wie umfangreich soll dieser Zyklus werden? Und gibt es schon Pläne, wann es damit losgehen wird?
Diese Idee habe ich mit Angela Metzger ausgeheckt: In vielen europäischen Konzertsälen sind in neuerer Zeit fantastische neue Instrumente entstanden, die aber kaum genutzt werden. Und wenn, dann gerne für Programme, die man lieber in einer Kirche hören möchte. Ein Konzertsaal klingt nicht nach wie eine Kirche und schlimmer noch: Eine Orgel im Konzertsaal klingt nicht nach, wie das Instrumentarium eines Orchesters. Nimmt man den Finger von der Taste, ist der Klang abgeschnitten. Das wiederum eröffnet Möglichkeiten, die in einer Kirchenakustik schlicht zur Unkenntlichkeit verschwimmen würden.
Dieser Zyklus wird dezidiert ganz profan werden: kleine, handliche Stunts, die gar nicht lange dauern, die man gut in ein schönes Programm integrieren kann, die darin entweder als Irritation oder besser noch als kleines glitzerndes Pralinchen auftauchen. Mal sehen, wie umfangreich der Zyklus wird. Hier ist der große Spaß, die Stücke dezidiert für Angela Metzger maßzuschneidern. Sie hat eine so souveräne Virtuosität, gleichzeitig eine klangsinnliche Musikalität und sie hat auch schon recht präzise Wünsche geäußert, was sie gerne hätte. Sowas regt bei mir sofort die Fantasie an! Das wird eine ganz besondere Zusammenarbeit, auf die ich mich sehr freue! Losgehen wird es Ende September 2024.
Die Liste der Aufführenden deiner Orgelwerke liest sich wie das „Who ist who“ der deutschen Orgelszene. Beeinflusst es dein Komponieren, wenn du neben dem Instrument auch weißt, für welchen Organisten/welche Organistin du schreibst?
Ich staune sehr darüber, wer sich da einreiht – und da lässt sich eine interessante Tendenz ablesen: Durch diese Choralvorspiele bin ich ziemlich tief in die Organistenszene eingetaucht und muss feststellen, dass das eine ganz seltsame Parallelwelt ist. Dass die Orgel und die Neue Musik wenig Berührungspunkte haben, liegt auch an einer Generation Organisten, für die Marcel Dupré schon „Neue Musik“ ist und Olivier Messiaen schrillste Avantgarde. Das sind die, die keinerlei Risiko eingehen wollen. Leider kommt die Musiktradition so auch nicht vom Fleck und verstaubt. Daneben gibt es eine jüngere Generation, die Freude an modernen Stücken hat, die sich Herausforderungen wünschen und mit denen ich spannende Abenteuer aushecken kann. Mit denen macht das Zusammenarbeiten einen Riesenspaß.
Wenn ich den Auftrag kriege, ein Stück zu schreiben, das an einer bestimmten Orgel uraufgeführt werden soll, schaue ich mir an, wie dieses spezifische Instrument im Detail aussieht. Ich gehe aber davon aus, dass die Stücke dann auch an anderen Instrumenten, die ganz anders disponiert sind, gespielt werden können sollten. Insofern: jein — ich lasse mich nur in Maßen davon beeinflussen. Ein Sonderfall war, als ich für Maximilian Schnaus Nr. LIII, „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ geschrieben habe: Das hat er an der historischen Silbermann-Orgel der Hofkirche in Dresden uraufgeführt. Das heißt: verkürzte Oktaven, geringerer Umfang als bei modernen Instrumenten, vollmechanisch, kein Schwellwerk ¬– das setzte sehr enge Grenzen. Aus denen etwas zu machen, war wiederum sehr inspirierend.
Gibt es eine Idealorgel, ein Lieblingsinstrument für dich? Und hast du einen Traum, für welche Orgel du gern noch komponieren würdest?
Die Idealorgel, die ich immer wieder im Ohr habe, ist die große Orgel von Saint-Eustache in Paris. Sie verbindet französisch-romantische Süffigkeit mit klanglichen Möglichkeiten, die fast elektronisch klingen und von ätherisch entrücktem Säuseln und Raunen bis zu einem epochalen Donnergrollen reichen. Und dieses Instrument hat eine so stabile Windversorgung, dass ein im Tutti mit beiden Armen gespielter Cluster – ohne klangliche Beeinträchtigungen – wie die Posaunen von Jericho im Raum stehen kann.
Ein Trauminstrument gibt es eigentlich nicht. Eher wäre es ein Traum, wenn mein Orgelkonzert aus dem Dornröschenschlaf geküsst und wieder gespielt werden würde!
Das Gespräch fand im Juli 2023 statt