In seinen Orchesterwerken der vergangenen Jahre spaltete der Komponist Miroslav Srnka das Orchester immer weiter in seine „Einzelteile“ auf und individualisierte vor allem die Masse des Streicherapparats, so dass letztlich ein riesenhafter „Superorganismus“ entsteht. In seiner neuen Konzertkomposition „Is This Us?“ treten zwei Solohörner einer Gruppe der vielen – einem in vielfachen Einzelstimmen verflochtenen Orchester – entgegen. Dieses Gegenüber ist inspiriert von einer Passage aus Winter des norwegischen Autors Karl-Ove Knausgaard, einer Reflektion über Identitäten: „Für uns selbst sind wir immer, wer wir sind, während für andere die Person, die wir sind, etwas ist, das nach und nach auftaucht, etwas, das bei uns ankommt und dann wieder verschwindet. Der Mensch hat einen Fluchtpunkt, in den er sich hinein- und herausbewegt, eine Zone, in der wir für andere Menschen vom Bestimmten zum Unbestimmten, vom Unbestimmten zum Bestimmten gelangen. Diese unbestimmte Person, gesichts- und charakterlos, lebt in Mustern, die sie einengen und das Material für Statistiken liefern.“
Diese Idee weiterdenkend, richtet der Komponist den Fokus auf die Paarkonstellation: „Als Paar kann man sich vor dem jeweils anderen nicht hinter einen Fluchtpunkt zurückziehen. Im Gegenteil, mit der Nähe wird alles nur bestimmter, und alles Unbestimmte außerhalb des Paares kann zugleich komplett verschwinden. Doch von außen gesehen kann auch ein Paar gemeinsam in die Zone des Unbestimmten gelangen. Der Fluchtpunkt wird zur Frage des Sichtpunktes. Und der Intimität.“
Dabei interessieren den Komponisten vor allem die Aspekte der gegenseitigen Verflechtung und Verschmelzung: „Wenn vor der Orchestermasse ein Paar von identischen Soloinstrumenten steht, dann verschwindet wer für wen in einem solchen klanglichen Geflecht hinter einen Fluchtpunkt? Wer für wen lebt in Mustern? Wer für wen wird so intim, dass die Zone des Unbestimmten nicht mehr möglich ist?“
Srnkas Reflexion führt schließlich zu dem Ergebnis, dass Knausgaard nicht darüber schreibt, „dass etwas Überraschendes, Unerlaubtes oder Gewaltiges geschieht“. Die Musik versucht stattdessen, neue Fragen zu formulieren: „Wohin bewegt sich der Fluchtpunkt? Überlebt die Intimität? Erkennen wir uns selbst noch danach?"
Marie Luise Maintz/Robert Krampe
(aus [t]akte 1/2024)