Acis und Galatea, der zeitlose Mythos aus Ovids „Metamorphosen“, inspirierte Georg Friedrich Händel zu drei großartigen musikdramatischen Kompositionen. Die Serenata HWV 49b, noch relativ unbekannt, bietet vielfältige Aufführungsmöglichkeiten.
Die dramatische Kantate Aci, Galatea e Polifemo (HWV 72, 1708) und vor allem die Masque Acis and Galatea (HWV 49a, 1718) sind heute wohlbekannt. Jedoch blieb eine dritte Fassung des Stoffes, die Serenata Acis and Galatea von 1732 (HWV 49b) nahezu gänzlich unbekannt, da das Werk nur fragmentarisch überliefert worden ist. Diese Fassung wird nun im Rahmen der Hallischen Händel-Ausgabe zum ersten Mal vollständig editorisch erschlossen vorliegen.
Dabei stellt HWV 49b mit all seinen Besonderheiten einen Sonderfall nicht nur im Zyklus von Händels Acis und Galatea-Vertonungen dar, sondern in seinem gesamten Œuvre überhaupt.
Zwar handelt es sich nicht um ein gänzlich neukomponiertes Werk, sondern um eine Mischform aus den beiden Vorgängerversionen, die noch um Stückübernahmen aus Opern, Oratorien und Kantaten ergänzt wurde. Doch ist das vordergründig nur als Pasticcio anzusehende Werk dabei weit mehr als nur die Summe seiner Teile. Es bewegt sich gattungstechnisch und im Werkumfang zwischen Oper und Oratorium; Händel selbst bezeichnete diese Version als „Serenata“ und führte sie nachweislich semiszenisch, also mit Kostümen, Requisiten und Kulissen, allerdings ohne theatralische Bühnenaktion auf. Grundsätzlich ist zudem sowohl eine vollszenische als auch eine rein konzertante Aufführung problemlos möglich.
Die spezifischen Entstehungsumstände dieser Spätfassung von Acis and Galatea brachten ein Werk hervor, dessen musikalischer Formenreichtum und Klangfarbenpracht im Schaffen Händels seinesgleichen sucht. Ein halbes Dutzend Soloensembles sowie aktumschließende Chöre sind ebenso Zeichen dieser Vielfalt wie die kompositorische Vereinigung von Stücken aus den verschiedenen Schaffensperioden Händels: So findet sich die Experimentierfreudigkeit der frühen italienischen Kantate mit manch kühnem Einfall in Instrumentierung und Stimmführung gleichberechtigt neben den schlichteren, doch schon die Tiefe der späteren Oratorien vorwegnehmenden Stücken der englischen Masque. Weiterhin bewies Händel beim Kompositionsplan für HWV 49b sein Können auch im Hinblick auf dramaturgische Gewichtung und Stringenz. Im ersten Akt herrscht noch die reine Freude der Liebe vor, wenn Acis, Galatea und vielerlei Hirten und Nymphen ihr gemeinsames Glück feiern und besingen. Nichts scheint die Stimmung trüben zu können, doch mit Beginn des zweiten Aktes erscheint Polifem und in kammerspielartiger Verdichtung auf die drei Hauptpersonen beginnt sich der Konflikt zwischen den Liebenden und dem eifersüchtigen Zyklopen zu entfalten. Der dritte Akt führt dann unaufhaltsam zur Katastrophe und kulminiert im Mord an Acis, der noch mit einer herzzerreißenden Sterbearie sein Leben aushauchen darf. Doch auch hier gelingt, dem barocken Genre gemäß, noch die Wende zu einem Lieto fine, indem Galatea ihren Liebsten in einen Fluss verwandelt, mit welchem sie sich schließlich vereint.
Während die Geschichte, im Gegensatz zur Opera seria mit ihren komplexen und oft verwirrenden Handlungssträngen, denkbar einfach gehalten ist, steht die Musik mit ihrer großen Vielfalt immer im Dienste des Affekts und transportiert auf Händels typisch kongeniale Weise meisterhaft die Gefühle der Protagonisten.
Der Band mit HWV 49b wird nicht nur die Uraufführungsfassung von 1732 enthalten, sondern auch Material für mehrere Umarbeitungen, die Händel in den folgenden Jahren vorgenommen hat. Somit bietet sich dem heutigen Interpreten die Möglichkeit, das Werk den eigenen Gegebenheiten anzupassen. Es bietet in seiner Flexibilität, seiner musikalischen Fülle und seinen zahlreichen Alleinstellungsmerkmalen somit geradezu ideale Voraussetzungen für den heutigen Spielbetrieb sowohl an klassischen Opernhäusern als auch bei spezialisierten Festivals.
Artie Heinrich
(aus [t]akte 2/2012)