Eine pralle Handlung, eine fabelhaft fantasiereiche Musik: Händels „Giustino“ gehörte bisher nicht zur Spitzengruppe der Aufführungszahlen seiner Opern. Mit der Neuedition könnte sich das ändern.
Wundersames geht vor sich: Ein Bauernsohn schläft beim Pflügen ein und wird im Traum von der Schicksalsgöttin dazu aufgerufen, die angestammte Scholle zu verlassen und seiner wahren heldenhaften Bestimmung zu folgen. Kaum hat er sich auf den Weg gemacht, da erscheint eine Prinzessin, die von einem Bären verfolgt wird. Giustino (so heißt der junge Bauer) tötet die Bestie und rettet die Prinzessin Leocasta, die sich sofort in ihn verliebt und ihn in ihren Palast einlädt. Dort wappnet sich der byzantinische Kaiser Anastasio gerade zum Kampf gegen die aufrührerischen Truppen des Vitaliano; seine Ehefrau Arianna folgt ihm in den Kampf und wird gefangengenommen. Nun ist es an Giustino, den Usurpator zu besiegen und die Kaiserin vor einem Seemonster zu retten, das sie – von Vitalianos Schergen an einem Felsen ankettet – aufzufressen droht. Giustino besteht auch diese Probe, und wir sind nun erst am Beginn des zweiten Aktes einer märchenhaften, fantastischen und effektvollen Bühnenhandlung angelangt, an deren Ende sich der Bauernsohn als edler Prinz entpuppt und ein böser Intrigant namens Amanzio – eine Art Jago der Barockoper – seine gerechte Strafe findet.
So bunt, reich und opulent wie die Handlung ist auch Händels Musik, die er im Jahr 1736 zu seinem Dramma per musica „Giustino“ (HWV 37) schrieb. Händels Londoner Opernunternehmen stand damals in Konkurrenz zu einer zweiten Entreprise, der sogenannten „Opera of the Nobility“ mit dem berühmten Farinelli als Starsänger, und Händel hatte sich vorgenommen, drei neu komponierte Bühnenwerke – „Arminio“, „Giustino“ und „Berenice, Regina d’Egitto“ – dagegenzusetzen. In „Giustino“ mobilisierte er nicht nur eine Fülle von Bühneneffekten, sondern stattete seine Musik auch mit großer Besetzung – Trompeten, Hörnern, Oboen, Blockflöten erklingen – und Chorsätzen, mit Accompagnati, Echoeffekten und Bühnenmusiken aus. Dabei schuf er szenenübergreifende musikalische Komplexe, wie man sie eigentlich erst aus Opern der zweiten Jahrhunderthälfte kennt: So werden die 4. bis 7. Szene des ersten Aktes (Giustinos Leben als Landmann, sein Traum, sein Aufbruch in die Welt, die Rettung Leocastas) in einem pausenlosen Wechsel von Accompagnati, Arien, Chor, Sinfonia und einfachen Rezitativen dargeboten – eine musikdramatische Meisterleistung.
Händel konnte für die Opernsaison 1736/37 auf die Mitwirkung des Oboenvirtuosen Giuseppe Sammartini zählen, und arbeitete für ihn zwei bereits vollständig komponierte Musiknummern um: die Ouvertüre und die Arie der Arianna am Ende des zweiten Aktes, die zu einer ausgedehnten, mit Ad-Libitum-Kadenzen der Oboe ausgestatteten Bravourarie aufsteigt. Am Ende steht ein groß angelegter Solo-Chor-Komplex, ein Wechselgesang zwischen den Protagonisten, der in ein Chorfinale übergeht, alles ausgearbeitet als festliche Chaconne.
Charles Burney hat im 4. Band seiner „General History of Music“ 1789 über „Giustino“ ein ebenso enthusiastisches wie prophetisches Urteil gefällt: „Upon the whole, this opera, so seldom acted and so little known, seems to me one of the most agreeable of Handel’s dramatic productions“. Die historisch-kritische Edition der Oper in der „Hallischen Händel-Ausgabe“ soll dazu dienen, dieses „most agreeable“ Werk einem heutigen Publikum wieder näherzubringen. Die Oper erlebte am 16. Februar 1737 ihre Uraufführung auf der Bühne des Covent Garden Theatre, aber Händel hatte seine Komposition bereits fünf Monate zuvor, am 20. Oktober 1736, abgeschlossen. Damals war allerdings noch unklar, ob Sammartini tatsächlich mit dem Opernorchester auftreten würde, und außerdem hatte er die Rolle des Amanzio für einen Bass komponiert. Die Partie des intriganten Generals sollte letzten Endes eine Altistin, die auf Hosenrollen spezialisierte Maria Caterina Negri, übernehmen. Der Komponist nutzte die Zeit noch für weitere überarbeitende Eingriffe, so dass sich deutlich eine in Händels Autograph erhaltene vollständige Frühfassung von der späteren Fassung der Uraufführung unterscheiden lässt.
Der neue Band der „Hallischen Händel-Ausgabe“ teilt in seinem Hauptteil die Fassung der Uraufführung erstmals in vollständiger Form mit, und bietet im Anhang die Möglichkeit, die Erstfassung kennenzulernen. Sie ist etwas konziser und kompakter, vor allem aber dramaturgisch stringenter geformt als jene Werkgestalt, die dann auf der Londoner Bühne zu hören war. Für heutige Interpretinnen und Interpreten bieten beide Fassungen reiches Material für spannende Inszenierungen, die dieser großartigen Heldenlegende – von Anthony Hicks sehr treffend als „theatrical extravaganza“ charakterisiert – zu einer steigenden Popularität verhelfen mögen
Wolfgang Hirschmann
(aus [t]akte 2/2024)