Die Konfrontation von Religionen – zur Zeit des Alten Testaments war sie so aktuell wie heute. In Händels Oratorium Samson spielt solch ein Konflikt bis zum fatalen Ausgang die Hauptrolle.
Samson zählte im 18. Jahrhundert zu den am meisten aufgeführten Werken Händels. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Zahl der Aufführungen im Vergleich zu anderen Werken Händels abgenommen. Liegt es am Wandel unserer Moral, die heute eher global als national gegründet ist? Liegt es daran, dass wir uns im Streit der Religionen nicht mehr vorbehaltlos auf eine Seite schlagen können? Welche Chancen hat ein Oratorium wie Samson im 21. Jahrhundert, das uns gleich zu Beginn durch einen gewaltigen Schrecken lehrt, jeden Selbstmordattentäter zu verabscheuen? Doch es geht hier nicht um Verurteilung oder Rechtfertigung. Ein genauerer Blick auf Händels Samson zeigt, dass solche Überlegungen zu kurz greifen.
Die Erzählung von Samson, von seiner geheimnisvollen Körperkraft, von dem Philistermädchen Dalila, das ihm das Geheimnis entlockte und ihn an seine Feinde verriet, und von seiner letzten Heldentat, der Zerstörung des Philistertempels, ist aus dem Alten Testament bekannt. Unmittelbare Vorlage des Oratoriums aber ist ein Stück Weltliteratur, John Miltons Versdrama Samson Agonistes. Es konzentriert Samsons Geschichte in drei Begegnungen des gefesselten Helden am letzten Tag seines Lebens und stellt sie als Tragödie dar.
Wir werden Zeuge seiner tiefsten Verzweiflung: Der selbstherrliche Kraftprotz, der durch übermütige Streiche und blutige Gemetzel die Philister das Fürchten gelehrt hatte, liegt nun geschlagen, gefesselt, blind, geschunden von Sklavenarbeit und ohne Hoffnung am Boden. Schlimmer als das Gespött seiner Feinde trifft ihn nun das Mitleid seiner Freunde, vor allem aber seines Vaters, der ihm den Gegensatz zwischen einst und jetzt unbarmherzig ausmalt. Samson sieht keinen Sinn mehr in seinem Leben und wünscht sich einen baldigen Tod. Dalila, hier seine Ehefrau, bietet ihm an, sich für seine Freilassung einzusetzen und ihn für den Rest seines Lebens zu pflegen und zu verwöhnen. Samson widersteht der Versucherin. Schließlich tritt ihm in dem Philister Harapha, einem muskelstrotzenden Riesen, sein früheres Selbst entgegen. Samson entlarvt ihn als Großmaul.
In diesen drei Dialogen ist das Recht keineswegs eindeutig auf Seiten Samsons. Seine Kontrahenten haben gute Argumente; die Auseinandersetzungen sind spannend. Dalila wird – vor allem musikalisch – als klug und attraktiv dargestellt. Samson sieht am Ende die Möglichkeit, seinem Leben als Kämpfer für die Freiheit seines Volkes noch einmal einen Sinn geben zu können, was allerdings nur um den Preis seines Lebens möglich ist.
Gewiss, Samsons Befreiungstat wird gefeiert. Aber dieser Schluss war von Händel und seinem Textbearbeiter Newburgh Hamilton ursprünglich nicht geplant. Das Oratorium sollte still mit einem Requiem für Samson enden. Milton erinnert in seinem Vorwort daran, dass die Tragödie seit alters die Kraft habe, „durch Erregung von Mitleid und Furcht oder Schrecken das Gemüt von dergleichen Leidenschaften zu reinigen“. Diese Kraft hat auch heute noch Händels Musik. Sein Oratorium zielt auf die Erschütterung des Zuhörers, nicht auf seine Partei-nahme. Die Hilfe, die Händel uns bei der Bewältigung des Schreckens anbietet, könnte heute wieder gefragt sein.
Die in Trauer endende Urfassung ist bis heute niemals aufgeführt worden. Das jubelnde Finale, das Händel – vermutlich mit Rücksicht auf sein Publikum – 1742 anhängte, feiert aber nicht Samsons Tat, sondern Gottes Vorsehung. Auf Händels Wunsch bearbeitete Hamilton dafür das Engelskonzert aus Miltons Gedicht „At a solemn music“. Außerdem kamen im Rahmen dieser Bearbeitung auch die Philister mehr zu Wort. Sie sind musikalisch als ein fröhlich feierndes, keineswegs unsympathisches Volk charakterisiert. Das Oratorium gewann durch Händels Bearbeitung mehr Farbe und Abwechslung, ohne seinen tragischen Charakter aufzugeben. Wer diesen aber betonen will, hat mit der Hallischen Händel-Ausgabe zum ersten Mal die Möglichkeit, die Urfassung aufzuführen. Sie ließ sich – abgesehen von einer halben Arie – rekonstruieren.
Ferner stellt diese Ausgabe alle bekannten Versionen des Oratoriums zur Verfügung, die Händel selbst aufgeführt hat. Da kaum eine Aufführung des langen Werkes ohne Kürzung auskommt, dürfte die zuverlässige Wiedergabe aller authentischen Kürzungen willkommen sein. Der Paralleldruck gekürzter und ungekürzter Rezitative erhöht den praktischen Nutzen der Partitur und des Klavierauszugs.
Hans Dieter Clausen
(aus [t]akte 1/2012)