50 Jahre ist es her, seit sich in Prag für Bohuslav Martinus lustige Oper Mirandolina nach Goldoni erstmals der Vorhang hob. Das Werk, das an Rossinis Motorik denken lässt, fiel einst durch die Raster der gültigen Stile. Eine Wiederentdeckung verdient es zum Jubiläum allemal.
Wo kann man solch unbekannte Opern kennenlernen? Natürlich beim Wexford-Festival, dem extravaganten Musiktheaterforum in Irland, das sich der Ausgrabung versunkener Bühnenschätze verschrieben hat und so etwa die komplette Palette der romantischen Opern Heinrich Marschners neu ins Bewusstsein hob. Wen wundert es, dass hier 2002 auch Bohuslav Martinus Buffa Mirandolina neu entdeckt wurde? Nch der Prager Uraufführung 1959, der deutschen Erstaufführung in Essen ein Jahr später und nur seltenen Wiederaufführungen hatte der Zeitgeist dieses einem scheinbar überholten Neoklassizismus verpflichtete Stück in den Schatten verbannt. Ein brillantes, lebhaftes, mit wohlorganisiertem Orchesterlärm und kunstvollen Vokalensembles aufwartendes Werk – sollte es für immer dem Archivschlaf überantwortet bleiben? In diesem Sommer konnte man Mirandolina erneut auf einer der Inseln erleben, und zwar bei der Garsington Opera, nicht weit von Oxford.
In mehrerlei Hinsicht hatte Mirandolina den Erwartungen avancierter Opernfreunde in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht recht entsprechen können. Zum einen fehlte der Stoffbearbeitung jener „kritische”, offen oder subkutan gesellschaftsdiagnostische Zug, der zum Beispiel den zur selben Zeit entstandenen Jungen Lord von Hans Werner Henze zu einer ansehnlichen Interessantheit machte (freilich hatte Ingeborg Bachmanns raffiniertes Libretto ungleich mehr Pfiff als Martinùs mit dramaturgischem Geschick, aber ohne literarische Ambition gebautes Mirandolina-Textbuch). Zum anderen musste beim italienischen Sujet das zurücktreten, was vielfach Martinùs Werke imprägnierte und ihnen ein besonderes nostalgisches Aroma gab: musikalische Reminiszenzen an seine südböhmische Heimat, die er, der universalistisch-weltläufigste unter den vier tschechischen „Klassikern” (Smetana, Dvorák und Janácek hatten mehr oder weniger eine bodenständig-nationale Tonsprache entwickelt, auch in einer gewissen Opposition zur deutschen Kulturhegemonie), so oft in seiner Musik beschwor.
Auch Smetana, der Gründervater der tschechischen Musik, hatte sich jahrelang im Ausland aufgehalten und als Kapellmeister in Schweden verdingt. Als Martinu 1923 mit einem kleinen Stipendium nach Paris ging, wollte er zunächst nur ein paar Monate fortbleiben, um bei dem bewunderten Albert Roussel Unterricht zu nehmen (Martinu, lebenslang enorm produktiv, brachte ihm gleich hundert unveröffentlichte Werke als Talentnachweis mit). Aber es kam anders. Zunächst fesselte ihn die künstlerische Atmosphäre der Seine-Hauptstadt mit ihren zahlreich-kontroversen künstlerischen und geistigen Strömungen. Dann vergällte ihm die politische Situation in Mitteleuropa eine Rückkehr. Auch mit dem realsozialistischen Regime wollte Martinu sich nicht arrangieren. In seiner zweiten Lebenshälfte Exilant, lebte er vorwiegend in den USA.
Von seinem Naturell und seiner Biographie her erinnert Martinu deutlich an seinen russischen Kollegen Sergej Prokofiew. Dass dieser seine bedeutende internationale Karriere im Westen aufgab und heimwehkrank ins Imperium Stalins zurückkehrte, schlug ihm zum Unheil aus; die späten Jahre in Russland bedeuteten psychische und physische Qual und vorzeitigen Tod. Prokofiews Opernœuvre zeigt sich ähnlich bunt und von vielerlei Einflüssen bestimmt wie dasjenige Martinùs. Der Sphäre von Mirandolina am meisten verwandt scheint Prokofiews große, gestaltenreiche Buffa Die Verlobung im Kloster (nach dem selben Mantel-und-Degen-Sujet Sheridans wie Roberto Gerhards La Duenna).
Der barocke Komödiendichter Carlo Goldoni, den man auch als Seismographen und Verherrlicher italienischer Stadtfolklore bezeichnen könnte, inspirierte selbstverständlich viele Generationen (nicht nur) italienischer Opernkomponisten. Zu den liebenswürdigsten „Goldonisten” zählte in den Jahrzehnten um die vorletzte Jahrhundertwende der Deutschitaliener Ermanno Wolf-Ferrari, der, mit subtil überzuckertem Kantilenenschmelz, spinnwebfeinem Orchesterkolorit und meist ungetrübt hellem Dur wider den damals übermächtigen Wagnerianismus so etwas wie eine leise Revolution der Italianità zu setzen unternahm. Am bekanntesten wurden seine Vier Grobiane.
Wenn man Partituren von Wolf-Ferrari in die Hand nimmt, wundert man sich über ihre Dickleibigkeit, ihr Gewicht, über die Vielzahl der aufgeschriebenen Noten. Klar: Geschwinde Musik braucht viele Notenblätter. Der Parsifal war relativ papiersparsam zu komponieren. Und so signalisiert auch das schwere Mirandolina-Notenpaket: Hier geht es überwiegend um Presto-Musik. Wenngleich um Klangkunst von recht anderem Zuschnitt als Wolf-Ferraris Goldoni-Vertonungen. Eher denkt man an Rossini, seine stringente und hochgesteigerte Motorik. Martinus Maschinenstil-Assoziationen sind natürlich vom frühen 20. Jahrhundert geprägt; die von ihm eloquent gehandhabte Tonsprache der „erweiterten Tonalität” gibt auch den Stimmcharakteren viele Entfaltungsmöglichkeiten. Dominant ist die Koloratursopran-Equilibristik der Titelfigur, die in einer groß angelegten Arie (in der sechsten Szene des ersten Aktes) ihren Höhepunkt erreicht. Aber auch im unbeschwerten Finalensemble überstrahlt Mirandolinas lange ausgehaltenes hohes „A“ die Verlautbarungen der Mitsänger. Die Handlung variiert den Topos der düpierten „hochgestellten” Verehrer und den Triumph des schlichten ranggleichen Liebhabers: Die charmant-hemdsärmlige Wirtin Mirandolina weist die mit allerlei skurrilen Macken daherkommenden Adligen ab und verbindet sich, nach drei kurzweiligen Akten, mit ihrem Kellner – auf dass das Geschäft so richtig blühe. Traditionell italienisches Temperament zeigt Martinu vor allem in dem „Saltarello”-Zwischenspiel vor dem dritten Akt (Martinu weilte 1954 länger in Italien, was ihm die Idee für die „italienischste“ seiner Opern eingab).
Eine komödiantische Wohlgebautheit wie Bohuslav Martinus Mirandolina verdiente allmählich eine belebte Bühnenkarriere – das Repertoire der Opere buffe ist nicht so riesig, als dass man auf diese Italien-Huldigung eines weltgewandten Tschechen verzichten könnte.
Hans-Klaus Jungheinrich
aus [t]akte 2/2009
Bohuslav Martinu: Tschechischer Weltbürger, von Italien inspiriert
Bohuslav Martinu
Mirandolina
Komische Oper in drei Akten H. 346 (1954)
Libretto: Bohuslav Martinú (nach Carlo Goldonis Lustspiel La locandiera von 1752) (italienisch)
Uraufführung: 17. Mai 1959, Prag, Národní divadlo (Nationaltheater
Übersetzung: Carl Stueber (deutsch)
Ort der Handlung: Florenz, im Gasthaus Mirandolinas
Personen: Mirandolina, Gastwirtin (Sopran), Hortensia, Komödiantin (Sopran), Dejanira, Komödiantin (Alt), Fabrizio, Kellner (Tenor), Der Diener des Cavaliere (Tenor),, Conte Albafiorita (Tenor), Cavaliere Ripafratta (Bass (Bariton)), Marchese Forlimpopoli (Bass), Ein Juwelier (stumme Rolle) – Ballett (ad lib.)
Orchester: 3(Picc),2,2,2 – 4,3,3,0 – Pk,Schlg(3) – Str
Verlag: Bärenreiter
Photos: Mirandolina bei der Garsington Opera im Sommer 2009 (Photos: Johan Persson)