Neben Gounods Faust, Bizets Carmen und Saint-Saëns' Samson et Dalila gehört Thaïs von Jules Massenet zu jenen Meisterwerken des französischen 19. Jahrhunderts, deren Erfolg auf den Bühnen bis heute nicht nachgelassen hat. Neben Manon (1884) und Werther (1892) ist es zudem eines der populärsten wie auch originellsten Werke des Komponisten. Die Neuausgabe in der Reihe „L’Opéra français“ gibt Bühnen die Möglichkeit, erstmals aus allen drei Fassungen zu schöpfen.
Seine Originalität speist sich vor allem aus der von dem philosophischen Roman von Anatole France inspirierten Thematik, der die Begegnung zwischen dem Mönch Athanaël und der Kurtisane Thaïs im Alexandria des 4. Jahrhunderts schildert. Ausgehend von den Heiligenlegenden ägyptischer Mönche erzählt dieser das innere Drama der beiden Protagonisten, die zwischen geistiger und fleischlicher Liebe hin- und hergerissen sind. Diese verinnerlichte Ausrichtung des Werkes unterstreichen zusätzlich zahlreiche Episoden von Träumen bzw. erotischen, mystischen oder albtraumhaften Visionen in Form ausgedehnter orchestraler Passagen, die manchmal von Pantomimen oder Balletteinlagen begleitet werden. Am berühmtesten ist zweifellos die Meditation für Solo-Violine, (Chor) und Orchester, die häufig selbständig im Konzert gespielt wird. Eine eher technische Besonderheit ist, dass Thaïs als eine der ersten französischen Opern auf ein Prosalibretto und nicht wie bisher üblich in Versen komponiert wurde, was zu einer spezifischen Art von Prosodie führte, die dem Werk einen flüssigeren Ablauf ermöglicht.
Die Partitur von Thaïs ist in drei von Massenet autorisierten Fassungen überliefert, die bisweilen an verschiedenen Opernhäusern parallel aufgeführt wurden. Die erste Fassung der Uraufführung an der Pariser Oper am 16. März 1894 stimmt überein mit dem Autograph des Komponisten und der im Dépot legal hinterlegten Erstausgaben. Besonders originell ist die Musik dort, wo sie symphonischen Passagen, Pantomime und Tanz ausnehmend viel Platz einräumt. Nach einem kurzen ersten Akt („La Thébaïde“) besteht der zweite Akt aus drei durch zwei orchestrale Episoden verbundene Szenen: „Les Amours d'Aphrodite“ und „La Méditation“. Der dritte Akt besteht ebenfalls aus drei Bildern, von denen das zentrale ein großes allegorisches Ballett ist („La Tentation“), das die Versuchungen des Mönchs Athanaël darstellt. In der Nachfolge von Gounods Faust endet die Oper mit einer großen mystischen Apotheose.
Trotz seiner von der Presse gelobten musikalischen Qualitäten errang das Werk zunächst nur einen Achtungserfolg: Die Abfolge der Szenen ohne Pausen stand der Aufführungstradition, an die das Pariser Publikum gewöhnt war, entgegen – ein Publikum, das wohl auch von den obligaten Tanzeinlagen der Académie nationale de musique verwirrt gewesen sein dürfte, die Gallet, Massenet und der Choreograph Joseph Hansen als ein stark vom Symbolismus geprägtes Handlungsballett konzipiert hatten.
Um sein Werk im Spielplan zu halten, beschloss Massenet bereits nach den ersten Aufführungen im April 1894, das Ballett im III. Akt zu streichen, die ersten vier Bilder gleichmäßig auf die Akte I und II zu verteilen und infolgedessen „Les Amours d'Aphrodite“ in ein Vorspiel zum neuen II. Akt umzuwandeln sowie die Schlussapotheose zu streichen. In dieser zweiten, überarbeiteten und gekürzten Fassung wurde die Oper fortan in Paris, in den meisten Provinztheatern und im Ausland aufgeführt. Da das Werk nun für die Vorgaben der Académie nationale zu kurz geworden war, wurden die Aufführungen von Thaïs durch ein unabhängiges Ballett, meist La Korrigane (1881) von Charles-Marie Widor, ergänzt.
1898 überarbeitete Massenet sein Werk ein zweites Mal und passte damit seine Partitur den Gepflogenheiten der Opéra an. Er strich „Les Amours d'Aphrodite“ endgültig, fügte am Ende des II. Aktes ein neues orientalisierendes Ballett ein, das besser dem Publikumsgeschmack entsprach, sowie ein neues Tableau („L'Oasis“) und brachte so den III. Akt wieder ins Gleichgewicht. Erst in dieser dritten Fassung setzte sich das Werk dann (mit oder ohne Ballett) wirklich durch.
Die kritische Erstausgabe von Thaïs setzt sich zum Ziel, Interpreten und Wissenschaftlern das musikalische Material, das zur Rekonstruktion aller drei von Massenet autorisierten Fassungen der Oper nötig ist, vollständig zur Verfügung zu stellen. Insbesondere ermöglicht es die Neuausgabe durch die Integration der gestrichenen Abschnitte bzw. Bilder wie der Symphonie „Les Amours d'Aphrodite“ (II. Akt), des Balletts „La Tentation“ (III. Akt) und der Schlussapotheose (III. Akt), erstmals die innovative Erstfassung vom März 1894 zu restituieren.
Die Neuausgabe entstand auf Basis der Ausgaben der Partitur und des Klavierauszugs, die zwischen 1894 und 1898 bei Heugel erschienen, der sorgfältigen Kollationierung von Massenets Handschriften, der provisorischen gestochenen Partitur, die für die Proben und die ersten Aufführungen Verwendung fand, und historischem Material, das sich in der Bibliothèque-musée der Oper in Paris befindet.
Fabien Guilloux
(Juni 2021 / Übersetzung Annette Thein)