Nicht weniger als 28 Opern Francesco Cavallis, des seinerzeit berühmten Monteverdi-Schülers, sind erhalten. Die Edition Francesco Cavalli – Opere erschließt diesen frühbarocken Kosmos neu.
Animiert durch den Erfolg der Opern Claudio Monteverdis gelangte in den letzten Jahrzehnten auch das Opernschaffen Francesco Cavallis (1602–1676) in das Blickfeld der weltweiten Theaterlandschaft. Während es sich bei Monteverdis überlieferten Opern um nur drei Werke handelt, sind es bei seinem Schüler und Nachfolger als Kapellmeister an San Marco annähernd dreißig. Tatsächlich war Cavalli einer der bedeutendsten und produktivsten Opernkomponisten des 17. Jahrhunderts und schuf die Voraussetzungen für die sich anschließende Entwicklung und Etablierung der Oper als Gattung, wobei er die charakteristischen Merkmale der Werke Monteverdis übernahm. Trotzdem stellen seine Opern eine unverwechselbare Vielfalt im musikalischen wie auch dramatischen Sinne dar und werden dadurch zu einer wahren Fundgrube für künftige Aufführungen.
Die wenigen verfügbaren Ausgaben, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden und letztendlich wegweisend für das wachsende Interesse an Cavalli waren, sind im Hinblick auf die gegenwärtigen aufführungspraktischen Bedürfnisse Alter Musik nicht ausreichend. Zwei kritische Editionen jüngeren Datums hatten eine Reihe von Inszenierungen, besonders von La Calisto, zur Folge. Einstudierungen anderer Opern des Komponisten basierten auf anlassbezogenen Einrichtungen des musikalischen Materials ohne Beabsichtigung einer weiteren Verwendung. Die neue Kritische Ausgabe der Opern Cavallis will dem Bedarf an verlässlichen quellenbasierten Editionen und an Aufführungsmaterial nachkommen. Zudem möchte sie Inszenierungen bisher nicht wiederentdeckter Opern befördern.
Die Edition
Der zunächst geplante Teil der Reihe umfasst 14 Opern, die Hälfte jener mit erhaltenem Notenmaterial: La Calisto, Artemisia, L’Orione, L’Eliogabalo, Scipione Affricano, La Didone, L’Erismena, L’Eritrea, Veremonda l’Amazzone di Aragona, L’Ipermestra, L’Egisto, Ercole amante, Il Xerse und Giasone. Die Auswahl erfolgte anhand verschiedener Gesichtspunkte: geschichtliche Bedeutung der Werke, Vielfalt und Stellenwert der Quellenlage, die Interessen einzelner Herausgeber, die bereits im Vorfeld an einer Edition arbeiteten, wie auch die Berücksichtigung repräsentativer Beispiele für die kompositorische Entwicklung Cavallis.
Dabei unterscheiden sich die Herausforderungen bezüglich der Edition von Frühwerken grundlegend von denen späterer Opern. Zum einen ist das originale Notenmaterial von geringem Umfang – die Partituren bestehen im Wesentlichen nur aus zwei Systemen, nämlich der Gesangsstimme und einem geringfügig bezifferten Generalbass mit vereinzelten drei- bis fünfstimmigen Streicherpassagen. Außerdem enthalten die Partituren einige handschriftliche Anweisungen und Kürzel bezüglich der Orchestrierung, Transposition oder anderer Details der Ausführung, welche die damaligen Musiker verstanden und umzusetzen wussten, deren Bedeutung gegenwärtig jedoch nicht immer unmittelbar ersichtlich ist. Eine Übertragung in Aufführungsmaterial erfordert herausgeberische Eingriffe, um die Eintragungen in den Partituren zu konkretisieren, oder es bedarf der Mitarbeit von Interpreten, um adäquate Möglichkeiten aufzuzeigen.
Die Quellenlage
Durch die Veröffentlichungen der Libretti ist nachweisbar, dass nahezu alle Werke mehr als einmal im 17. Jahrhundert zur Aufführung kamen, wobei die Opern Eliogabalo, die nie gespielt wurde, Calisto, Ipermestra und Ercole amante Ausnahmefälle darstellen. Dennoch sind einige Stücke nur in einer musikalischen Quelle überliefert: Eliogabalo, Calisto, Ipermestra, Eritrea, Artemisia, Didone und Veremonda. Von anderen dagegen sind mehrere Partituren überliefert: Giasone (11), Erismena, Xerse sowie Scipione Affricano (3), Orione und Egisto (2).
Durch die Überlieferung mehrerer Libretti für die meisten Opern ist die Quellenlage zugleich besser und komplexer gegenüber anderen Werken. Die Textfassungen sind ein wichtiger Teil der Cavalli-Editionen, da es sich bei ihnen sowohl um Zeugnisse für mehrmalige Aufführungen als auch Hilfen zur Entschlüsselung der Anmerkungen in den erhaltenen musikalischen Quellen handelt. Durch die Unvollständigkeit der erhaltenen musikalischen Materialien sind die Libretti oft eine bessere Grundlage zur Rekonstruktion der zeitgenössischen Opernrezeption. Aus diesem Grund wird jede Ausgabe der Opern sowohl von einem Herausgeber für das Libretto als auch einem für die Musik erarbeitet.
Die meisten musikalischen Primärquellen befinden sich in der Contarini-Sammlung der Biblioteca Marciana in Venedig. Die 28 in der Sammlung vertretenen Opern, das Gesamtkorpus der erhaltenen Opern Cavallis, wurden vom Komponisten mit dem Ziel zusammengetragen, sie der Nachwelt zugänglich zu machen. Einige von ihnen sind ganz oder teilweise Autographe. Andere, wie auch La Calisto, sind partiell in der Handschrift von Maria Sososmeno überliefert, der Ehefrau Cavallis, die zwischen 1650 und ihrem Tode 1652 als Kopistin arbeitete. Bei wiederum anderen Opern handelt es sich um Reinschriften, die vermutlich zwischen 1652 und 1676, Cavallis Sterbejahr, angefertigt wurden.
Editorische Richtlinien
In den Partituren erfolgen grundlegende aufführungspraktische Ergänzungen, wie das Ausschreiben von Ritornellen, wenn sie nur angedeutet waren oder vereinzelt Stimmen im Instrumentalsatz fehlten. Die Generalbassbezifferung wird nur in Fällen von mehrdeutigen Akkorden hinzugefügt oder vereinheitlicht, wenn die originalen Angaben Fragen aufwerfen oder inkonsequent erscheinen. In allen Fällen werden diese Arten von Herausgeberzusätzen deutlich vom ursprünglichen Notentext unterschieden und gekennzeichnet.
Bei den meisten musikalischen Quellen handelt es sich um singuläre Überlieferungen, im Falle des Textes sind jedoch mindestens zwei Fassungen erhalten: Der Text des Librettos wird als Kritische Edition parallel mit einer englischen Übersetzung wiedergegeben, der gesungene Text dagegen unter den Noten. Alle Divergenzen werden benannt und einzelne Fehler oder Mehrdeutigkeiten einer Fassung unter Berufung auf die jeweils andere berichtigt. Jeder Band enthält eine umfassende Einleitung, worin der historische und literarische Zusammenhang des Werkes sowie dessen Aufführungsgeschichte beschrieben werden. Außerdem werden eine Zusammenfassung der Handlung, die Besetzungsangaben und eine Auflistung der Bühnenbilder beigefügt. Das Vorwort wird Aufführungsmöglichkeiten aufzeigen, indem es Vorschläge hinsichtlich möglicher Transponierungen und Kürzungen unterbreitet. Weiterhin werden Faksimiles, z. B. von der Titelseite des Librettos und repräsentativen Partiturseiten, in die Ausgaben aufgenommen.
Ziele der Bärenreiter-Ausgabe sind es, verlässliche Partituren für Musikbibliotheken bereitzustellen und die Grundlagen für kommende Inszenierungen zu schaffen, in denen das bereitgestellte Aufführungsmaterial verwendet oder hinsichtlich individueller Vorstellungen zur Continuobesetzung, zu dynamischen Angaben etc. verändert werden kann. Mit der Publikation dieser kritischen Ausgaben hoffen wir, den damit verbundenen Bedürfnissen gerecht zu werden und die Beschäftigung mit diesen Opern für verschiedenste Aufführungssituationen anzuregen – von einer Hochschulproduktion bis hin zu den großen Opernhäusern der Welt. Denn gerade dieses Repertoire zeigt erstmals in der Geschichte die vielschichtigen Wechselwirkungen des Opernbetriebes anhand der regelmäßigen Produktion von Werken dieser neuen Gattung auf.
La Calisto, der erste Band dieser Reihe, ist vor Kurzem erschienen, in Vorbereitung befinden sich Artemisia, Scipio Affricano und Orione. Aufführungsmaterial ist leihweise für La Calisto und Artemisia sowie auch schon für Giasone, Ercole amante und Eliogabalo bei Bärenreiter · Alkor erhältlich.
Ellen Rosand / George A. Saden
Generalherausgeber der Opern Francesco Cavallis
(Übersetzung: Monika Liebau – aus [t]akte 2/2012)