Mehr als 150 Jahre nach ihrer erfolgreichen Aufführung an der Pariser Opéra kehrt Halévys La Magicienne zurück. Die wirkungsvolle Oper verdient einen neuen szenischen Versuch.
Nach seiner Erfolgsoper La Juive, die im Februar 2007 nach einer Unterbrechung von 73 Jahren an die Pariser Oper zurückkehrte, erklang im Juli 2011 nun auch die Musik von La Magicienne wieder in Frankreich, der sechsten und letzten von Fromental Halévy komponierten Oper. In konzertanter Darbietung eröffnete sie das Festival von Radio-France und Montpellier, Languedoc-Roussillon. Seit den 45 Vorstellungen der Magicienne in der Pariser Oper während der Jahre 1858/1859 sind nicht weniger als vier Generationen verstrichen.
Das erste Jahrzehnt des zweiten französischen Kaiserreichs war nicht mehr eine Zeit, die dramatisch zugespitzte religiöse Konflikte (La Juive, Les Huguenots) oder sehnsüchtig-nationale beziehungsweise sozial-revolutionäre Aufwallungen (Charles VI, Le Prophète) auf der Opernbühne erleben wollte. Ein Bühnenwerk, das mythisch überhöht emotionale Konflikte sicht- und hörbar machte, entsprach mehr den Erwartungen einer nach dem Schock der Ereignisse von 1848 zu einem gewissen Teil erneut religiös bewegten Gesellschaft.
Der Operntext behandelt in frei abgewandelter Weise die mittelalterliche Legende von der schönen Melusine. Diese gewann durch einen Pakt mit Stello (= Satan), dem sie hierfür ihre Seele verpfändete, eine unwiderstehliche Verführungskraft, die sie an René, Blanches Bräutigam, auch sogleich zur Wirkung bringt. Durch ein Zaubergespinst gelingt es Melusine, René Blanches Untreue vorzutäuschen und so dessen Eifersucht zu entzünden. Doch auch Stello liebt Melusine und vermag durch seine überlegenen Zauberkräfte Melusines Liebe zu René zu durchkreuzen. Als René, von Blanches völliger Unschuld unterrichtet, Melusine mit Abscheu von sich stößt, wird diese von aufrichtigen Reuegefühlen ergriffen. Nun fordert Stello jedoch Melusines Seele als Preis des Teufelspaktes ein. Allein die andächtige, dreimal vorgetragene Fürbitte von Blanche, René und Blanches Vater, dem Grafen von Poitou, macht alle Teufelskraft zunichte. Melusine bekennt sich als Christin und stirbt in Blanches Armen.
Die mit unwiderstehlicher Verführungskraft ausgestattete Melusine kann als eine Verkörperung zeitloser männlicher Ängste vor „der“ Frau schlechthin verstanden werden, die in dieser (Wahn-)Vorstellung untrennbar mit „dem Bösen“ verbunden ist. Der Zauberin Melusine wird am Ende eine Läuterung und eine durch ihre Reue ermöglichte christliche Erlösung zuteil. Sie stirbt in und an einem Übermaß von Erleuchtung, so wie nach ihr Thaïs und Jean, der Jongleur de Notre-Dame, da, wie wir im Exodus 33,20 lesen, „der Mensch mich [Gott] nicht sehen und am Leben bleiben kann“.
Fromental Halévys Opernmusik verbleibt im überkommenen Rahmen einer Folge von klar abgegrenzten „Nummern“ von Arien, Ensembles und, zum Teil getanzten, Chören. Die Meisterschaft seines musikdramatischen Komponierens ist 23 Jahre nach der Juive ungemindert. Die Melodiebildung, Ausgang und Herz seines Tonsatzes, ist auch in der Magicienne gekennzeichnet von dem unablässigen Bestreben nach „distinction“ (Vornehmheit), unter peinlicher Vermeidung jeden Anklangs von Trivialität. Hören wir nacheinander, wie es heute wieder möglich ist, die Musik von La Juive ( 1835), Charles VI (1843) und La Magicienne, so wird unüberhörbar, dass Halévy kaum danach strebte, die Meisterwerke der für ihn jüngsten Operngeschichte durch radikale stilitsische Neuerungen zu überbieten. So mögen auch für seine Bühnenwerke insgesamt die Worte, die Jules Janin im März 1833 zur Charakterisierung von Aubers Musik zu Gustave III fand, in einem allgemeinen Sinne bezeichnend sein: „musique de souvenir plutôt que d’imagination, musique de regret plutôt que d’esperance“ (Musik mehr der Erinnerung als der Einbildung, mehr des Bedauern als der Hoffnung).
Karl Leich-Galland
aus [t]akte 2/2011