Logo: takte
Das Bärenreiter Magazin
  • Portrait
  • Musiktheater
  • Orchester
  • Zeitg. Musik
  • Gesamtausgaben
  • Publikationen
  • Termine
  • Kontakt

English switch to english

Es geht ums Ganze. Beat Furrers neue Oper „Violetter Schnee“

Beat Furrer: Violetter Schnee. Oper. Text von Händl Klaus basierend auf einer Vorlage von Vladimir Sorokin in der Übersetzung von Dorothea Trottenberg. Auftragswerk der Staatsoper Unter den Linden

Uraufführung: 13.1.2019 Berlin (Staatsoper Unter den Linden), Musikalische Leitung: Matthias Pintscher, Inszenierung: Claus Guth, mit Anna Prohaska, Elsa Dreisig, Gyula Orendt, Georg Nigl, Otto Katzameier, Martina Gedeck. Weitere Aufführungen: 16., 24.und 31.1.2019

Besetzung: 2 Soprane, 1 hoher Bariton, Bariton, Bass-Bariton, GemCh (24 Stimmen) – Orchester: (3. auch Picc + Bassflöte), 2, 3 (2. auch BKlar und KBKlar) (3. auch BKlar und KBKlar), Sax (Sopran + Bariton), 3 (3. auch Kfag) – 3,4,4,1 – Schlg (3) – Klav, Akk – Str (12,12,8,6,4)

Verlag: Bärenreiter, BA 11165, Aufführungsmaterial leihweise

Fotos: Beat Furrer (EvS/Manu Theobald) / Pieter Bruegel d. Ä., Jäger im Schnee (Ausschnitt), Kunsthistorisches Museum Wien (Foro: Wikipedia)

Schnee, kosmische Kälte: In Beat Furrers neuer Oper „Violetter Schnee“ sind fünf Menschen in einem Haus auf dem Weg in unbekanntes Terrain. Am 13. Januar 2019 wird sie an der Berliner Staatsoper uraufgeführt.

Eine geschlossene Gesellschaft: fünf Menschen in einem Haus, umgeben nur von Schnee. Sie sind ausgesetzt, auf ihre pure Existenz zurückgeworfen. Etwas ist passiert, doch haben sie dafür keine Sprache. Ihre Hölle ist die Ungewissheit. Ohne darüber reden zu können, was geschehen ist, was aus ihnen wird, befinden sie sich im freien Fall ins Unbekannte. Ihre Gespräche zeugen von einer absurden Belanglosigkeit, die alle Bedrohungsszenarien mit Geplapper überdeckt. Einzige Sicherheit ist der Schnee draußen, der zur fantastischen Projektionsfläche wird. Es gibt noch eine sechste Person, Tanja, die nur beschreibt, was sie sieht. Oder ist sie eine Phantasmagorie, die Erinnerung an eine Verstorbene?

Ein Bild von Pieter Bruegel dem Älteren bebildert Idyll und Gefährdung zugleich: „Jäger im Schnee“ ist im Jahr 1565 gemalt, als sich in der sogenannten Kleinen Eiszeit in Mitteleuropa die Temperaturen verschoben und die Winter für einen existenziellen Überlebenskampf sorgten, kurz bevor an der Grenze zur Neuzeit ein Denker über das Licht der Vernunft schrieb. Bruegel zeichnet den Winter in vielen kleinen Geschichten, erzählt von der lebensfeindlichen Kälte: Im Zentrum eine Vogelfalle, in der mit Ködern die kleinen Tierchen angelockt werden, um sie zu erschlagen, oder er zeigt die Jäger, die bloß einen Fuchs erbeutet haben, oder das Haus mit dem brennenden Kamin, der gelöscht werden muss, um die schützende Hülle zu erhalten. Bruegel malt die Vogelperspektive, das Spiel im klirrenden Winter in seiner ganzen Ambivalenz, die Vergnügung beim Schlittschuhlauf, beim Stockschießen, die Leichtigkeit.

Das Libretto zu „Violetter Schnee“ von Händl Klaus nach Vladimir Sorokin handelt von einem fantastischen Sturz ins Ungewisse. Beat Furrers Komposition zieht den Hörer mit Vehemenz hinein in dieses Szenario: in ein Geschehen der totalen Wandlung, in das verblüffte Erleben von fünf Menschen, deren Welt sich in eine umfassende Fremdheit hineindreht. Ihr Verhalten mäandert zwischen Euphorie und Angstvision, Banalität und Vereinsamung. Am Schluss ein seltsames Licht, ein Mond, der Schnee leuchtet violett: Verheißung, Erlösung, Untergang?

Silvia, Natascha, Jan, Peter und Jacques können Bestandteile des Bildes sein. Eingeschlossen in ein Haus, umgeben von unendlichen Schneemassen, reden sie über ihre eigentliche Situation hinweg, erzählen allenfalls von Träumen, die ihre Bedrohung spiegeln. Die Motive ihrer Erzählungen tauchen immer wieder auf: Peter etwa, der träumt, wie er machtlos erleben muss, dass er aus dem Eis gerettet wird, jedoch sein eingefrorener Körper zu schnell erwärmt wird, Silvia, in deren Bratsche während eines Konzerts eine Hornisse wächst, die das Instrument zum Brummen bringt, dann zerbersten lässt. Oder eine Kontemplation von Jacques über die „dunkle Materie“, fast humoristisch schwebend wie eine betrunkene Vision. „Der Zuhörer verhält sich wie der Betrachter des Bildes von Bruegel, das ein theatralischer Ort ist. Ihm bietet sich eine Situation dar, in der das Ganze in Einzelepisoden zerfällt, und doch setzen sich Dinge wie eine Geschichte zusammen. Jacques Arie über die dunkle Materie etwa kommt ganz leicht daher und spitzt sich dramatisch zu, doch auch da ist es kein apokalyptisches Szenario. Aber es geht ums Ganze, auch in dieser Arie, man könnte sie als Besoffenheit verstehen, aber natürlich steckt mehr dahinter, es ist immer doppelbödig.“ (Furrer) Es gerät ins Schwanken, was wirklich, was Vision ist. Jacques begegnet Tanja und sieht in ihr seine tote Frau. Ihre Geschichte bleibt im Dunkeln, ist suggestiv, kann sich im Kopf des Zuhörers zusammensetzen. Seine Sprache verändert sich in der Musikalisierung, der Klang nähert sich dem Sprechen, im untersten dynamischen Bereich, mikrotonale Schritte treten auf. „Er muss singen, wie man zu einem Vogel spricht“, heißt es in der Anweisung.

„Die Musik erzählt den Zerfall dessen, was man gekannt, was man geliebt hat. Das entspricht dem auf einer anderen Ebene, was mit der seltsamen Sonne passiert, mit dem Licht. Es ist das Vertraute, das fremd geworden ist und uns existenziell in Frage stellt“, so Beat Furrer. Musikalisch vollzieht sich eine Tendenz zur immer mehr zersplitterten Klanglichkeit, zur immer schrofferen Kontrastierung, die Kontinuitäten zerbersten, fallen auseinander. Was im Prolog noch eine stetige, harmonisch-klangliche Entwicklung ist, wird immer mehr versetzt mit collagierten, geschnittenen Strukturen.

Mit Wucht zieht von Beginn des Prologs an ein überbordend bewegliches Klangtotal in diesen Kosmos des Ungewissen. Aus zwei musikalischen Motiven entwickelt sich alles: zum einen das fortwährende Modulieren und Glissandieren der Harmonien, das später zu einem ständigen Verfärben der Stimme führt. Zum anderen die Schnitte, in denen Disparates aufeinanderprallt. Im letzten Ensemble vor der „violetten Vision“ gibt es nur noch Wortfetzen „fallen stürzen gehen …“

Furrer: „Ich glaube, es ist wichtig, dass hier nicht ein apokalyptischer Tonfall herrscht, der klischeehaft besetzt und mit ganz bestimmten Bildern verbunden ist. Hier befinden wir uns in einem freien Fall, der zur Darstellung kommen soll. Das ist unbewohnt, in einer Menschheit, die entlassen wird in die kosmische Kälte, es ist wichtig, dass man wirklich friert, es ist wirklich kalt. Es geht um den Gang in unbekanntes Terrain, bei dem keiner weiß, was dann kommt.“

Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 2/2018)


zurück

English switch to english

Musiktheater

Saverio Mercadantes „Francesca da Rimini“ an der Oper Frankfurt
Alkor liefert Leihmaterial von Ut Orpheus aus
Liebe und Freiheit. Cavallis Oper „Scipione Affricano“ in einer neuen Edition
„Rusalka“ – endlich revidiert. Die neue Urtext-Ausgabe von Dvořáks Oper
Viel mehr als die „Danse bohemienne“. Bizets Oper „La Jolie de Perth“
Reicher denn je. Rameaus „Zoroastre“ in der Fassung von 1756
Nicht nur „Carmen“: Das neue Editionsprojekt „Bizets andere Opern“
Erobereroper - Gaspare Spontinis „Fernand Cortez“
Pjotr Tschaikowskys „Eugen Onegin“ bei Bärenreiter
Überraschung über Überraschung – Rameaus „Surprises de l'amour“
„Titus“ – mit Abstand immer noch möglich
Das Ende eines Fluches - Die Neuausgabe von Rameaus „Les Boréades“
Reiche Bühnenaktion und vielfältige Chor- und Tanzszenen - Telemanns Oper für Hamburg „Die wunderbare Beständigkeit der Liebe oder Orpheus“
Dramaturgisch und musikalisch großartig - Ein Gespräch mit René Jacobs über Telemanns Oper „Orpheus“
Allegorie mit Ballett - Jean-Philippe Rameaus „Les Fêtes d’Hébé oder Die Lyrischen Talente“
ImpressumDatenschutz