Am Anfang des schmalen Traditionsfadens des Melodrams stehen „Ariadne“ und „Medea“ von Georg Benda. Die Spätfassung von „Medea“ ist in der Reihe „OPERA“ herausgekommen und bietet die Grundlage zu einem intensiven Theatererlebnis.
Der antike Mythos von Medea, einer der faszinierendsten Frauengestalten überhaupt, ist bis in unsere Gegenwart lebendig und produktiv geblieben – etwa in den großartigen Filmen von Pier Paolo Pasolini und Lars von Trier, in Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen oder in Aribert Reimanns Medea-Oper von 2010. Auf der Opernbühne war der Medea-Stoff schon seit den Anfängen in ganz Europa präsent.
Einer der größten Erfolge im deutschen Musiktheater des späten 18. Jahrhunderts war Georg Bendas Medea (1775). Das Stück nach einem Text von Friedrich Wilhelm Gotter wurde jahrzehntelang überall in Mitteleuropa aufgeführt und galt als Musterwerk der Gattung des „Mono-“ oder „Melodrams“. Anders als in der Oper wurde dabei nicht gesungen, sondern gesprochener Text mit Orchestermusik und Szene verbunden; die traditionelle Formensprache der Oper (Arie, Rezitativ, Ensemble, Chor) wurde aufgelöst und durch ein neues Zusammenwirken von Musik, Szene und Sprache ersetzt. Dabei folgte die Musik dem Text und dem psychodramatischen Verlauf enger, als es in der Oper oder dem Singspiel dieser Zeit möglich war. Die Konzentration auf eine einzige Hauptfigur und das rasche, feingliedrige Wechselspiel von gesprochenem Text und Musik ermöglichten es, konfliktreiche und widerspruchsvolle Psychogramme mit einer neuartigen Intensität zu entwickeln. Im Herzen der klassischen Theaterepoche bildete die (letztlich auf Rousseau zurückgehende) Form des Melodrams damit ein höchst unklassisches Ferment.
Bendas Werk lässt die antike Figur der Medea nahezu ohne äußere Handlung ausschließlich im heftigen, unlösbaren Konflikt ihrer Emotionen lebendig werden: Liebe und Hass, Wut und Trauer, Erinnerungen an Glück und Verletzungen, archaische Rachegefühle und Mutterliebe, Ängste und Hoffnungen, Verzweiflung und Auflehnung lösen sich in ihrem Inneren in rascher Folge ab – bis zur katastrophalen Zuspitzung beim Kindermord. All diese Emotionen finden in der vielgestaltigen Affektlandschaft der Musik Bendas ihren intensiven Ausdruck, der Generationen von Zuschauern in den Bann zog. Kein Geringerer als Mozart bewunderte dieses Werk dafür zutiefst. Benda legte Medea als Virtuosenstück für Friederike Sophie Seyler an, die berühmteste deutsche Schauspielerin ihrer Zeit; auch heute noch entfaltet das etwa 50-minütige Werk seine außergewöhnliche Ausdruckskraft, wenn eine große Schauspielerin es zum Leben zu erwecken versteht.
Am Ende seines Lebens überarbeitete Benda Medea noch einmal tiefgreifend neu und zog dabei die Summe seiner praktischen Erfahrungen mit der Bühnenwirkung des Werks. Diese späte, in vieler Hinsicht wirkungsvollere Fassung, uraufgeführt 1784 in Mannheim, blieb bislang jedoch unbeachtet und wird in der Bärenreiter-Edition erstmals wieder greifbar. Die Änderungen, die Benda bei der Neufassung vornahm, sind tiefgreifend und betreffen fast jeden Takt: Zahlreiche Details des musikalischen Satzes sind revidiert (Tempi, Stimmführungen, Rhythmik, Begleitfiguren etc.), die Instrumentierung ist erheblich verändert, Mittelstimmen werden lebendiger geführt, die Musik ist insgesamt gekürzt und wirkungsvoll verdichtet. Benda vermerkte zu Beginn des Autographs von 1784: „Medea / mit / verbeßerter Musik […] / Ich wollte, ich hätte sie unter dieser Gestalt / gleich bey ihrer Geburt auf das Theater gebracht.“ Der Komponist selbst verstand also diese spätere, stark veränderte Fassung als die gültige Version des Stücks. Durch Bendas Rückzug aus dem Musikbetrieb gelangte sie jedoch nicht mehr ins Repertoire der Bühnen und ist bis heute zu Unrecht völlig unbekannt geblieben: Alle bisherigen Ausgaben des Werks – und damit auch alle vorhandenen Einspielungen – beruhen auf der frühen Fassung von 1775. Erst die neue Edition lädt nun dazu ein, dieses Meisterwerk des Musiktheaters in seiner endgültigen Gestalt neu zu entdecken.
Jörg Krämer
(aus [t]akte 1/2018)