Siegfried Wagner, der im Juni 2019 vor 150 Jahren geboren wurde, wird schnell abgetan und unterschätzt. Doch seine Opern bergen einen großen Melodienreichtum und psychologische Brisanz.
„Wenn Strauss sagt, dass jetzt nicht mehr naiv geschaffen werden könnte, könnte er ebenso gut sagen, dass in der Zeit von Eisenbahnen und allseitigem Draht es keinen Frühling mehr gäbe.“ (Cosima Wagner)
Siegfried Wagners Lebensweg ist so eng mit der Geschichte der Bayreuther Festspiele verwoben, dass sich seine Biographie fast beiläufig erschließt. Er wurde am 6. Juni 1869 in Tribschen bei Luzern als drittes leibliches Kind von Richard Wagner und Cosima von Bülow, rechtlich also als Sohn der Eheleute von Bülow geboren, aber erst am 4. September 1870 getauft, und damit, nicht ganz blitzsauber, als Wagner-Sohn legitimiert.
Siegfried Wagner war vom Vater alternativlos als Erbe des Bayreuther Unternehmens vorgesehen. Künstlerisch trat er auch zunächst als Dirigent in Erscheinung und bevorzugte eine Art „dynastischer“ Programmgestaltung, Familienkonzerte, die aus Werken seines Großvaters, seines Vaters sowie aus Ausschnitten eigener Werke bestanden. Siegfried Wagners eigentliche interpretatorische Stärke lag aber auf dem Gebiet der Regie. Sein Wirken als Festspielleiter hingegen zeichnete sich auch darin aus, dass er dem Bayreuther Kreis um Schwager Houston Stewart Chamberlain vor allem die ideologische Steuerung des Bayreuther Betriebs überließ. Siegfried Wagners Testament von 1929 schließlich schrieb die Strukturen bis in die neueste Zeit (Satzung der Richard Wagner Stiftung) fest.
Systematisch durchgeplantes Œuvre
Siegfried Wagners musikalisches Œuvre umfasst 14 vollendete Opern, zwei symphonische Dichtungen, zwei Solokonzerte, ein Orchesterscherzo, eine Kantate, eine Symphonie sowie zahlreiche Lieder und andere kleinere Werke. Ein Spezifikum seines Personalstils besteht in einer eigenartigen musikalischen Vernetzung seiner Werke untereinander. Den Extremfall für diese Zusammenhänge bildet das Vorspiel zur Oper „Der Friedensengel“ (1914), das für den zweiten Satz der Symphonie vorgesehen war. Offenbar hat er sein Gesamtwerk bereits ab 1900 systematisch geplant. Nach seinem Debut mit der symphonischen Dichtung „Sehnsucht“ (1894) und der Komposition von acht Opern entstanden zwei Instrumentalkonzerte: Das „Konzertstück für Flöte und kleines Orchester“ und das „Konzert für Violine mit Begleitung des Orchesters“. Dieser Ausflug in die musikalische Gattung des instrumentalen Solokonzerts markiert eine Zäsur, die sich schon 1910 mit Plänen für zehn weitere Opern angekündigt hatte, von denen aber nur sechs ausgeführt wurden. Eine Zäsur lässt sich auch anhand verschiedener Ereignisse in Siegfried Wagners Biographie nachweisen: 1913 lief die Schutzfrist für Richard Wagners Werke ab, und die Familie stand mit dem Ausbleiben der Tantiemen vor einer neuen wirtschaftlichen Situation. Mit den neuen Werken wagte er den Versuch, in musikalischer Dramaturgie Neuland zu betreten. Die Nähe zum gleichzeitigen Jugendstil in der Bildenden Kunst ist in der klangkoloristischen Erweiterung der Orchestersprache unüberhörbar. Die ausdrückliche Bezeichnung des neuen Werkes als „Concert für Violine mit Begleitung des Orchesters“ drückt aber einen weiteren – höheren – Anspruch des Komponisten und seines Werks aus. Wie bei dem Flötenstück (es war für den [Halb-]Neffen Gilbert Graf Gravina geschrieben) handelt es sich auch beim Violinkonzert um eine Komposition mit biografischem Kontext, nämlich den der Eheschließung Siegfried Wagners mit Winifred Williams (1915) – wahrlich eine Zäsur für den homosexuellen Mann.
Äußerlich standen die zwanziger Jahre in Siegfried Wagners Biografie ganz im Zeichen des Ausgleichs des durch den Ersten Weltkrieg und die Wirtschaftskrisen ruinierten Familien- und Festspielvermögens. Nach 1927 ging seine Arbeit an den eigenen Opern nicht mehr über das Stadium der Textdichtung, des Particells oder die Vollendung des Vorspiels hinaus. Im Bemühen „mit dem Publikum in Fühlung [zu] bleiben“, entstanden weitere Werke, das Scherzo „Und wenn die Welt voll Teufel wär’“, das Orchesterwerk „Glück“ sowie eine Symphonie, die aber erst posthum uraufgeführt wurde.
Damit endete Siegfried Wagners Karriere als Komponist, die um die Jahrhundertwende so vielversprechend begonnen hatte, war doch sein Bärenhäuter in der Saison 1899/1900 die meistgespielte Oper. Sein Stern sank, bis nach dem Zweiten Weltkrieg seine Werke von Winifred Wagner gar mit einem Aufführungsverbot belegt wurden, das sich erst mit der konzertanten Aufführung des Friedensengels am 23. November 1975 in London lockerte.
Unzeitgemäß?
Siegfried Wagner hat sicher eine „unzeitgemäße“ (Winifred Wagner) Stellung innerhalb der Musikgeschichte. Ein Komponist, der sich bereits zu Beginn der kompositorischen Karriere als „reaktionär“ bezeichnete und seinen Stil unbeirrt zementierte, konnte – gerade auch im Hinblick auf die geschichtlichen Ereignisse dieser Zeit – kaum damit rechnen, 1929 noch genauso populär zu sein wie 1899. War schon Siegfried Wagners Kunst kaum eine Auseinandersetzung mit historischen, gesellschaftlichen oder politischen Entwicklungen, so vermisst man auch einen musikalischen Dialog mit anderen zeitgenössischen Komponisten. Diese – im Grunde dem Verhalten des Vaters nicht unähnliche – Bayreuther Hermetik bewirkte in hohem Maße eine Abgrenzung zur Musik seiner eigenen Zeit. Die selbstgewählte „Katakombenexistenz“ (so ein Selbstzeugnis) erlaubte ihm aber die Entwicklung einer eigenen originellen Tonsprache, vor allem im Bereich eines unerschöpflichen Reichtums der melodischen Einfallskraft, die einen nicht geringen Reiz dieser Musik ausmacht, an einen Orchesterapparat aber durchaus hohe ästhetische und spieltechnische Anforderungen stellt: Siegfried Wagner spielt und singt sich nicht von selbst.
Alle Opern Siegfried Wagners stellen höchste Ansprüche an eine erstklassige Sängerriege, nicht nur im Sinne vokaler Schönheit, intonationstechnischer Souveränität, sondern auch an Textverständlichkeit, darstellerischer Glaubwürdigkeit und psychologischer Durchdringung der gesamten Dramaturgie: Die Stoffe der Opern sind – unter der Oberfläche der märchenhaften oder historischen Erzählungen – von hoher psychologischer, moral- und geschlechterspezifischer sowie gesellschaftskritischer Brisanz und durchaus auf der Höhe ihrer Zeit, hinter der die literarische Qualität der Dichtung sicher zurückfällt, wenn auch das historisierende Sentiment dieser Kunstsprache ebenso ernstgemeint war und ernstgenommen werden will.
Siegfried Wagner war ein fleißiger Komponist, der mit der seiner Familie eigenen Konsequenz einen persönlichen Stil entwickelte, verfolgte und auch durchhielt. Er hat zudem wie viele seiner Zeitgenossen erkannt, dass die Zukunft der Musik auch in einer Vereinfachung der Mittel liegt. Die Musikgeschichte hat dies durch die Vielzahl von Operneinaktern, durch die Werke der Neoklassizisten, durch die Verdichtung und Abstraktion kompositorischer Prozesse durch die Neue Wiener Schule bestätigt. Dass sich Siegfried Wagner all diesen Tendenzen verschlossen hat, besagt nicht, dass er die Probleme seiner Zeit nicht erkannt hätte: Mit seiner „unzeitgemäßen“ Musik verbindet sich auch eine Kritik an einer poesielosen Gegenwart.
Unsere eigene Gegenwart hingegen, die Ansprüche politisch-ideologischer Zuverlässigkeit, dramaturgischer Verfestigung und Dogmen literarischer Stilhöhe inzwischen doch selbstbewusst überwunden hat, indem sie die Werke des Barock, des Belcanto – und auch die Operette – seit Jahren wieder neu entdeckt, kurz: die den vielfältigen Zwischenformen des Musiktheaters wieder zu ihrem Recht verhilft, sollte sich auch den herrlichen Seltsamkeiten dieses Komponisten wieder kreativ zuwenden.
Markus Kiesel
(aus [t]akte 2/2018)