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Komödie und musikalischer Verismo. Ermanno Wolf-Ferraris Komponieren

Ermanno Wolf-Ferrari: La vedova scaltra

Besetzung: Rosaura (Sopran), Marionette (Sopran) Il Conte di Bosco Nero (Tenor), Le Blau (Tenor), Don Alvaro (Bass), Rubenif (Bass), Arlecchino (Bariton), Folletto (Tenor), Birif (Bass) – Chor

Orchester: 3,3,3,3 – 4,3,3,1 – Pk, Schlg, Glsp, Klav, Hfe – Str, Bühnenmusik

 

Ermanno Wolf-Ferrari: Sly

Besetzung: Sly (Tenor), Dolly (Sopran), Conte di Westmoreland (Bariton), John Plake (Bariton), Dolly (Sopran), Fuhrmann (Bass), Soldat (Bariton), Koch (Bass), Laufbursche (Tenor), Landrichter (Tenor), Wirtin (Mezzosopran), Rosalina (Mezzosopran), Snare (Bass) – Chor

Orchester: 3,3,3,3 – 4,3,3,1 – Pk, Schlg, Glsp., Klav, Hfe – Str.

Verlag: Sonzogno, Vertrieb: Bärenreiter-Alkor

 

Fotos: Ermanno Wolf-Ferrari 1909 / Ermanno Wolf-Ferraris „La vedova scaltra“ 2007 am Teatro la Fenice in Venedig (Foto: Michele Crosera)

Ermanno Wolf-Ferrari war ein Grenzgänger, ein Wanderer zwischen den Welten. Als Sohn eines deutschen Vaters und einer italienischen Mutter standen zeit seines Lebens die kulturellen Traditionen Deutschlands und Italiens gleichermaßen im Mittelpunkt seiner künstlerischen Arbeit. Wolf-Ferraris Œuvre spannt sich konsequent auf zwischen einer Instrumentalmusik, die vor allem an den Traditionen der „deutschen“ Sinfonik und Kammermusik orientiert war, und einem musikdramatischen Schaffen, das sich mit Gattungen des italienischen Musiktheaters beschäftigte und diese auf die Möglichkeiten fürs Komponieren im 20. Jahrhunderts hin befragte. Die von Ermanno Wolf-Ferrari aus der doppelten Begründung heraus entwickelte kompositorische Haltung darf dabei mit Fug und Recht als singulär bezeichnet werden: Weder lässt er sich umstandslos dem italienischen Verismo zuordnen, noch verfolgte er die Linie der sogenannten „Generazione dell’ottanta“, die sich der Fortschreibung nationaler Traditionen zumal der Instrumentalmusik im Horizont aktueller Strömungen auseinandersetzte.

Spätestens mit der Uraufführung der dreiaktigen musikalischen Komödie „Die neugierigen Frauen“ 1903 in München galt Ermanno Wolf-Ferrari international als ein Komponist von Rang. Mit dem Rekurs auf eine der populärsten Komödien von Carlo Goldoni, die 1753 mit großem Erfolg in Venedig uraufgeführt worden war, konnte es ihm gelingen, dem komischen Musiktheater im 20. Jahrhundert neue Perspektiven zu eröffnen; Perspektiven, die sich nicht allein auf die Adaption eines genuin italienischen Sprechtheaters bezogen, sondern zugleich auch eine produktive Auseinandersetzung mit den Traditionsbeständen der musikalischen Komödie bzw. der Opera buffa implizierten.


La vedova scaltra

Weitere Goldoni-Opern folgten, und man greift nicht zu kurz mit der Behauptung, dass Ermanno Wolf-Ferrari eine produktive Auseinandersetzung mit den Traditionen des komischen Musiktheaters auf je individuelle Weise betrieb, so dass die Vertonungen wie eine systematische Entfaltung der Möglichkeiten des Komischen erscheinen. In der im März 1932 in Rom uraufgeführten dreiaktigen Commedia lirica „La vedova scaltra“ nach Goldonis gleichnamiger Komödie aus dem Jahre 1748 hat Wolf-Ferrari diese Anverwandlung von Historie zusammengefasst und gleichsam ins Extrem getrieben.
Die reiche Witwe Rosaura fasst den Entschluss, sich wieder zu verheiraten. Vier Bewerber stehen zur Wahl: ein Engländer, ein Franzose, ein Spanier und ein Italiener. Rosaura ist unentschieden: Den Engländer findet sie generös, den Franzosen galant, den Spanier respektabel, den Italiener leidenschaftlich. Daher ersinnt sie – begleitet im Spiel von Arlecchino und der Dienerin Marionette – eine List und stellt die Treue der Männer auf die Probe. Einzig der italienische Conte del Bosco Nero erweist sich als standhaft, und natürlich nimmt die Venezianerin Rosaura schließlich ihn zum Ehegatten.
Ermanno Wolf-Ferrari entwickelt auf dieser Grundlage einen übergreifenden Stilpluralismus. Die Nationalitäten und die mentale Differenz der vier Bewerber finden ihren klar konturierten komischen Rückhalt in einem dichten Netz stilistischer Zitate und Allusionen, die zuweilen gerade aus dem Klischee der Bezüge die Komik hervortreiben. Und während ein sprachliches Kauderwelsch zwischen dem Italienischen und den Muttersprachen der anderen Bewerber immer wieder die nationale Differenz unterstreicht, fasst Wolf-Ferrari die Gefühlsemanationen der Titelheldin in einen prägnanten, überschwänglichen Walzergestus.

Dass Ermanno Wolf-Ferrari mit „La vedova scaltra“ eine Frau auf die Bühne brachte, die klug die emotionalen wie die rationalen Voraussetzungen ihres Handelns abwägt, trägt emanzipatorische Züge und begründet – verglichen mit den Konventionen der veristischen Oper – einen modernen Frauentypus. Modern und singulär im italienischen Musiktheater der Zeit ist „La vedova scaltra“ zudem stilistisch durch den vorwaltenden Pluralismus der Formen, Gesten und Techniken, die dem Komponisten in all ihrer Komplexität zur Verfügung stehen. Wolf-Ferrari komponiert dabei jedoch keine neoklassizistische Oper, sondern ein Stück Musiktheater, das die Differenz der Stile dramaturgisch nutzt, sie ausstellt, virtuos kollagiert und zu einer heute mehr denn je aktuellen und wirkungsmächtigen Komödie fügt.


Sly, ovvero La leggenda del dormiente risvegliato

Für Wolf-Ferrari schrieb Giovacchino Forzano das Libretto zur Oper „Sly, ovvero La leggenda del dormiente risvegliato“. Ausgehend von seinem 1920 in Mailand uraufgeführten, gleichnamigen Schauspiel konzipierte Forzano ein Textbuch, das sich vorab in eine lange Tradition einrücken lässt und von einem hohen literarischen Anspruch des Autors zeugt. Einerseits griff er auf ein Märchen aus „1001 Nacht“ zurück. Andererseits rekurrierte Forzano auf Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“. Aus dem komischen Kesselflicker Sly wird ein alkoholsüchtiger Dichter und Sänger und setzt nach einem traumatischen Erlebnis durch Selbstmord seinem Leben ein Ende.

Dass Lord Westmoreland mit ihm ein Spiel spielen kann und er der Lüge aufsitzt, er sei ein reicher Herr, ist allein vor dem Hintergrund des gescheiterten Lebensentwurfs und der Sehnsucht nach einem erfüllten Leben begreifbar. Das soziale Gefälle zwischen dem mittellosen Dichter und dem reichen adeligen Drahtzieher bildet das dramaturgische Rückgrat der Oper – in dem zynischen Angebot kulminierend, Sly könne sich als Dichter oder Hofnarr bei Lord Westmoreland verdingen. Schließlich kulminiert die Oper in einem tragischen Missverständnis und einem „sinnlosen“ Tod, denn während Dolly, die Geliebte von Lord Westmoreland, sich anfangs noch als Handlangerin der Intrige zur Verfügung stellt, erkennt sie bald, doch zu spät, ihre wahren Gefühle für den Dichter.
Musikdramaturgisch erweist sich Ermanno Wolf-Ferraris Legende „Sly“ in mehrfacher Hinsicht als eine Oper des Verismo. Der erste Akt in der Londoner Taverne, in dem sich eine farcenhaft-lärmende Stimmung ausbreitet, gründet auf einem übergreifenden System musikalischer Zitate und Allusionen auf altenglische, schottische und irische Volksmelodien. Wolf-Ferrari fundiert insofern das turbulente Geschehen in einer für den Handlungsort realistischen Musik.

„Sly“ erlebte am 29. Dezember 1927 am Teatro alla Scala di Milano eine glanzvolle Uraufführung. Neben den umjubelten Sängerinnen und Sängern war es zumal die für Publikum und Presse gleichermaßen faszinierende szenische Dimension des Abends, die zum Erfolg beitrug. Der erste Akt bringt ein fein abgestuftes Gesellschaftspanorama in einem pittoresken Ambiente auf die Bühne. Der zweite Akt gründet auf dem für die veristische Dramaturgie konstituierenden Prinzip des Theaters auf dem Theater – Ruggero Leoncavallo hat es in „Pagliacci“ modellhaft geprägt – und bezieht aus der Konfrontation von Sein und Schein, von Realität und Fiktion, und dem daraus abgeleiteten Suspense-Verfahren seine besondere Wirkung. Der dritte Akt schließlich findet im unwirtlichen Kellergewölbe ein szenisch beredtes Sinnbild für den sozialen Abstieg, die emotionale Grenzerfahrung und das tragische Ende des Dichter-Sängers Sly.

Nach der Mailänder Uraufführung konnte sich Ermanno Wolf-Ferraris „Sly“ vor allem im deutschsprachigen Raum rasch etablieren. Doch bereits Mitte der 1930er Jahre ließ das Interesse nach, und nur noch vereinzelt kam es zu künstlerisch bedeutenden Inszenierungen. Es gilt, die Aktualität der Oper für die Gegenwart neu zu entdecken.

Hans-Joachim Wagner
(aus [t]akte 2/2018)

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