Die Wüste steht im gedanklichen Brennpunkt von Beat Furrers neuem Musiktheaterprojekt, das am Theater Basel uraufgeführt wurde – die Wüste als Ort des vollkommen Fremden, des Nicht-Seins, der Erinnerungslosigkeit, des Todes. Beat Furrer öffnet Fenster zu diesem „ortlosen Ort“.
Die Wüste – Fluchtpunkt und Projektionsfläche
Alles ist anwesend. Das Drama ist bereits passiert. Mit dramatischen Konzeptionen der Gleichzeitigkeit arbeitet Furrer seit dem Musiktheater Begehren (2003). Die Vorstellung der auf einen Moment komprimierten Erzählung wird musikalisch in einer komplexen Matrix komponiert, die gleichsam in Raum und Zeit projiziert wird, Linienfiguren und Bewegungsmodelle, die übereinander gelagert und durch Filter hervorgeholt oder ausgeblendet werden. Ein poetisches Bild dafür wurde in Fama (2005) titelgebend: das Bild der mythischen Figur, in deren Haus alle Geschichten der Welt widerklingen, ist eine Metapher für das Komponieren und formgebend für die Konstruktion des musikalischen Erzählens. Mit Wüstenbuch erhält dieses gleichzeitig Anwesende allen Geschehens, man könnte auch sagen: Ewige, das Beat Furrer im Übereinanderlegen von textlichen und klanglichen Schichten komponiert, eine neue Bildlichkeit. Die Wüste ist Symbol für alles, was nicht ist, eine negative Projektionsfläche und ein Fluchtpunkt gleichermaßen.
In Wüstenbuch setzt sich die Erzählung einer Reise in die Wüste aus verschiedenen Textschichten zusammen: Szenen aus Ingeborg Bachmanns gleichnamigem Fragment, verschränkt mit einem Text und Szenario von Händl Klaus und weiteren Texten von Lukrez, Machado, Valente, Apuleius und dem Papyrus Berlin 3024. Keimzelle für Furrers Arbeit an Wüstenbuch waren altägyptische Texte, auf die der Ägyptologe Jan Assmann den Komponisten aufmerksam machte. In die Komposition eingeflossen ist schließlich der berühmte Papyrus Berlin 3024, das „Gespräch eines Mannes mit seinem Ba“. Die diesseitige Seele, Ba, die den Menschen zu Lebzeiten begleitet und ihn im Tod verlässt, diskutiert mit ihrem „Ich“, das in größter Verzweiflung von seiner Einsamkeit berichtet, und versöhnt es mit der Vorstellung vom Tod. Das Gespräch mündet in eine hochpoetische Vision vom Tod als Heimkehr. „Der Tod steht heute vor mir, wie wenn ein Kranker gesund wird …“ Die Frage nach dem Tod, der für die Ägypter gleichbedeutend mit dem Vergessen ist, und dem ganz Fremden ist eine der Schichten der Komposition. Die Angst vor dem Vergessen ließ jene Hochkultur entstehen, deren Monumente heute noch für uns sichtbar sind – das Reich des Todes, von den Ägyptern auf der westlichen Seite des Nils angesiedelt.
Ingeborg Bachmann stellte in einem „Wüstenbuch“ betitelten Konvolut Szenen einer 1964 unternommenen Reise nach Ägypten zusammen und plante, diese mit Eindrücken aus der Großstadtwüste Berlins zu verschränken. In weiteren Fassungen werden die Erlebnisse immer wieder neu ausgearbeitet, etwa einem „Ägyptische Finsternis“ überschriebenen Kapitel des Fragments Der Fall Franza, und sind Teil ihres großen Romanprojekts Todesarten. Darin werden die „Fälle“ von Frauen aufgerollt, die im scheinbaren Schutz einer Ehe oder Beziehung von ihren Partnern zerstört werden. Bachmann reiste als Kranke, Versehrte, in der Folge des Bruchs mit Max Frisch gedemütigte und beinahe zerstörte Frau. Ihre Reise in die Wüste hatte Züge einer Läuterung und Rückkehr ins Leben. Das dokumentieren Szenen wie ihre Reise nach Wadi Halfa im Sudan, unmittelbar bevor die Stadt für den Assuan-Staudamm geflutet wurde, wo ihr elementare Erfahrungen wie Hunger, Durst, ein schweigendes Essen mit anonymen Wohltätern ihre Lebendigkeit bewusst machten. Vor allem aber war ihre Reise eine Begegnung mit Phantomen und Opfern: Die als Leichenschändung empfundene Ausstellung von Mumien im Ägyptischen Museum, die Schilderung einer wahnsinnigen Frau, die wie ein Tier am Strick an ihren eigenen Haaren durch die Stadt gezogen wird, die Begegnung mit dem Phantom am Schwarzen Meer: „Die arabische Wüste ist von zerbrochenen Gottesvorstellungen umsäumt…“
Nahtstelle zwischen Diesseits und Jenseits
Eine weitere Folie von Wüstenbuch ist ein Libretto, das von Händl Klaus ausdrücklich als „Geröllhalde“ für Beat Furrer geschaffen wurde. Die Äußerungen finden, so Händl Klaus, gedanklich „an einer Membran zwischen Dies- und Jenseits“ statt, in stets größter Bedrohung, Gefährdung, hoch gespannt und in gleißender Hitze empfunden. „An dieser Nahtstelle zwischen Diesseits und Jenseits ergibt sich unbedingte Kommunikation – die Seele ist ‚wesentlich‘ geworden, man ist in einen ‚entzündlichen Zustand‘ geraten. Und so ist auch die Sprache von diesem Empfinden des Drüben an die ‚Grenze‘ getrieben, durchlässig.“ Die Dialoge sind ein stark rhythmisiertes Ineinander von Sätzen oder Satzfragmenten. Die Sprecherinnen nehmen einander das Wort aus dem Mund. Die Sätze der Männerstimme sind syntaktisch verschraubt wie ausformulierte Gedankenwindungen. Die Temperatur der Texte ist hoch, sie sprechen von der Gefahr, verwundet zu werden, und von extremen Sinnesempfindungen: „Mein Gesicht liegt wund, mein Mund öffnet sich nicht mehr …“ (Szene VIII).
„Auf der Suche nach dem Fremden, das es eigentlich nicht mehr gibt“, so umreißt Beat Furrer das Thema von Wüstenbuch. „Der Nächste ist der Fremde, der neben Dir wohnt. Aber den Fremden im Sinne von einem Bewohner des anderen Raumes gibt es nicht mehr. Die Wüste ist der Zerfall dieser Struktur, der Nicht-Ort. Der Ort wird aufgelöst durch das ständige Reisen heute. Für diese Ortlosigkeit ist die Wüste eine Metapher, für die Auflösung sozialer Strukturen. Es war schon bei den Alten so, dass sie den Nicht-Ort, den Tod, auf der anderen Seite des Nils in der Wüste gesehen haben. Für uns ist es das absolute Vergessen sozialer Verantwortung und Strukturen, die Zerstörung des Raumes. … Immer wieder die Versuche, sich zu erinnern. In dieser Wüste gibt es einige Fragmente einer vergangenen stabilen Kultur, die diese Raserei und Geschwindigkeit noch nicht gekannt hat. Das sind nur noch Fragmente, die wir versuchen, zu entziffern. Die Protagonisten versuchen, etwas zu entziffern, zu lesen, was nicht mehr lesbar ist.“
Als eine Art inneres Szenario von Wüstenbuch kann man eine Reise in zwölf Etappen sehen. Menschen auf der Suche nach dem Fremden, nach den Ursprüngen der Kultur, begegnen den Fantasmen der Vergangenheit. Die Komposition vollzieht sich als eine Entwicklung hin zum äußersten Vergessen: Sie gipfelt im Ausgesetztsein in der Wüste und dem Verlust jeglicher Erinnerung und im Zerfall des Identitätsgefühls. Das Subjekt ist ausgelöscht, Teil eines abstrakten Kosmos, in dem physikalische Teilchen einen Tanz von Anziehung und Abstoßung vollziehen. Im Abgesang scheint die ferne Utopie von einem bloßen Miteinander, Menschsein auf.
Doppelgängerfiguren, Phantome gehören zum Personal von Wüstenbuch, musikalisch thematisiert im Spannungsfeld von Gesangs- und Sprechstimme. Musikalischer Prozess ist eine Entwicklung vom Gesprochenen und dem instrumentierten Gesungenen, also der Abwesenheit der Stimme, über die Kombination vielfältiger vokaler Formen bis hin zum reinen solistischen Gesang. Impliziert das Bild der Reise in die Wüste eine formale Prozessualität, so wirken die Szenen doch wie Fenster, die sich auf ein Geschehen öffnen. Zeit, das Nacheinander von Ereignissen wird gleichsam verräumlicht. Insofern ist der Blick in ein Haus oder Hotel, das die Uraufführungsinszenierung von Christoph Marthaler eröffnet, ein kongeniales Bild.
„Xenos III“: Versuch über das Fremde
Im Zentrum des kompositorischen Interesses von Beat Furrer steht „der Weg vom Sprechen zum Singen, der Raum zwischen Sprache und Stimme“. In Xenos III für Streicher und Schlagzeug, das vom Ensemble Resonanz in Wien uraufgeführt wurde, komponiert Furrer die „Instrumentierung“ eines Textes von Händl Klaus, ein Ergebnis von Sprachanalysen. Die klangliche Gestalt des Textes, der in sich rhythmisiert eine eigene Art von Melodie schafft, fließt in die Komposition ein. Der Streichersatz ist in einzelne Stimmen aufgefächert, das solistische Schlagzeug, die Pauke, wird zum „Sprecher“ und ihre Resonanzen gleichsam zu einer eigenen Aura für den in sich verschränkten Satz. Ein weiterer Versuch über das „Fremde“, wie die Übersetzung des griechischen Worts „Xenos“ lautet.
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 1/2010)
Beat Furrer
Wüstenbuch. Musiktheater nach Texten von Händl Klaus, Ingeborg Bachmann, Antonio Machado und Lukrez sowie Papyrus Berlin 3024 (2009). BA 9746, in Vorbereitung
Besetzung: 2 Soprane, 2 Schauspielerinnen, Vokalensemble (mit solistischen Aufgaben): 2 Mezzosoprane, 4 Baritone (2 hoch, 2 tief)
Orchester: 2 (auch Picc, auch BFl), 1, 2 (auch Bklar, auch KbKlar), BarSax (auch SSax), 1 (auch Kfag) – 1,1,1,0 - Schlg (2) – Klav, Akk – Str