Im Juli hat die an der Scala uraufgeführte Oper „Ti vedo, ti sento, mi perdo“ von Salvatore Sciarrino an der Deutschen Staatsoper Berlin ihre deutsche Erstaufführung.
Das Interesse Salvatore Sciarrinos an der Persönlichkeit Alessandro Stradellas hat eher musikalische als biographische Gründe. Sciarrino entdeckte während seiner Beschäftigung mit Stradellas Musik, dass dieser mit seiner Erfindung des Concerto grosso nicht nur als Vorläufer von Händel, sondern auch als Personifikation der künstlerischen Freiheit an sich gelten kann. Er war ein Erneuerer und suchte nach möglichst unterschiedlichen kompositorischen Lösungen: in der Kürze der Formen, der flüssigen und synkopierten Rhythmik, der themengerechten Phrasierung ‒ worin er fast Mozart zu antizipieren scheint ‒ und der Fähigkeit, das gesungene Wort auf plastische Weise zu modellieren.
Für das Libretto von Sciarrinos Oper Ti vedo, ti sento, mi perdo (Ich sehe dich, ich höre dich, ich verliere mich) hat Sciarrino auf unterschiedliche Textquellen zurückgegriffen (Apollonios von Rhodos, Ovid, Bashō, Stromboli, Rilke) und ein Meta-Musiktheater erschaffen. Die Grundsituation ist das vergebliche Warten auf die Ankunft Stradellas, des Protagonisten „in absentia“. Drei szenische Ebenen mit ihren autonomen und verschiedenartigen Dimensionen werden verknüpft und „kommunizieren miteinander und konvergieren sogar“. Der Komponist hat jede dieser drei Ebenen separat ausgearbeitet und sie danach auf fast filmische Weise in 19 Szenen abwechselnd montiert. Dabei spielt er mit kleinen Bildausschnitten, diskontinuierlichen Zeitsprüngen und der räumlichen Positionierung der drei Instrumentalgruppen (Orchester im Graben, Concertino auf der Bühne, Instrumente außerhalb der Bühne). Sciarrino hat eine dialogische Oper in seinem typischen Vokalstil erschaffen, der hier auch auf den instrumentalen Satz ausgedehnt wird, so dass die Instrumente wie die Stimmen singen und sprechen.
Die erste Ebene dominiert das Werk. Es ist die Ebene der Sängerin, die eine Kantate probt und dabei mit dem Chor interagiert. Diese Ebene hat einen lyrischen, verinnerlichten Charakter, sie evoziert die verführerische Kraft der Musik und ist reich an mythologischen Bezügen (auf Orpheus, auf Odysseus und die Sirenen). Manchmal bereichert die Sängerin ihren Gesang durch einen ausgezierten Stil voller Messa-di-voce-Töne oder wechselt in ein umfangreiches dramatisches Rezitativ (Szene 1). An anderen Stellen tritt eher der Chor in den Vordergrund, mit dichten Akkordstrukturen (Szene 11) oder mit einem deutlich madrigalistischen Charakter (Szene 13).
Die zweite Ebene ist die des Musikers und des Gelehrten, die Stradellas Ankunft erwarten, und dabei über die Ästhetik, die Musik und die „fließenden“ Architekturen des Barock diskutieren. Ihre dichten, spannungsgeladenen Dialoge werden stets von einem unterlegten „Windgeräusch“ begleitet, das von einem Blech erzeugt wird. Hinzu kommen noch einzelne Luftgeräusche (Szene 2), lange Triller oder Glissandi aus Flageolettönen (Szene 7) oder Glissandi der hinter der Bühne agierenden Posaune (Szene 16).
Und es gibt schließlich die Ebene der Diener, die die Handlung unterbrechen, sich streiten und ihre Herrschaften nachäffen. Sie bringen aber auch Nachrichten von Stradella und helfen beim Aufbau für die Aufführung. Aus diesem Grund werden ihre Plänkeleien von rhythmischen und perkussiven Elementen begleitet, die die geschäftige Betriebsamkeit dieser Figuren unterstreichen. Im Geiste der Opera buffa sind diese Diener überzeichnet wie Karikaturen, auch durch ihre vokalen Tics: Minchiello stottert, Finocchio beendet jeden Satz mit einem „Mmmh …“, das von einem schnellen Glissando abwärts begleitet wird, und Solfettos Gesang ist von Rülpsern und Schluchzern durchsetzt.
Auch in musikalischer Hinsicht installiert Sciarrino in dieser Oper parallel laufende Diskurse. Originale Musik von Stradella verwendet er immer in den Szenen mit den Proben der Sängerin. Der Komponist versteht diese Einschübe nicht als Zitate, sondern als „Anwesenheiten“, als Bruchstücke der Erinnerung, und er behandelt sie so, dass die Modernität dieser Musikstücke ins Auge fällt, auch wenn er sie mit anderen Stilen, anderen musikalischen Epochen, anderen Komponisten wie Schubert und Chopin verbindet. Aber es bleibt im Intermezzo der Oper auch Raum für den geliebten Gesualdo, und zwar in Form eines orchestrierten Madrigals aus dessen IV. Madrigalbuch, „Sparge la morte al mio signor nel viso“.
Gianluigi Mattietti
(aus [t]akte 1/2018)