Il Xerse kennt man heutzutage hauptsächlich dank der Oper Georg Friedrich Händels, die der Hallenser im Jahr 1738 schrieb. Jedoch ist Händels Oper in Wahrheit nichts anderes als das abschließende Kapitel in der Geschichte eines Sujets, das von Francesco Cavalli bereits fast ein Jahrhundert früher in Musik gesetzt worden war: Il Xerse, 1655 im Theater SS. Giovanni e Paolo in Venedig erstmals aufgeführt, war eine der erfolgreichsten Opern ihrer Zeit. Davon zeugen nicht nur die vielen bekannten Wiederaufführungen in ganz Italien, sondern auch die Tatsache, dass die Oper ausgewählt wurde, um in Paris anlässlich der Festlichkeiten der Hochzeit des französischen Königs Ludwigs XIV. mit der Prinzessin Maria Teresa von Spanien aufgeführt zu werden.
Der Erfolg der Oper beruhte wesentlich auf dem Sujet, das der Textdichter Nicolò Minato dem siebten Buch der Historien des Herodot entnommen hatte, einem Werk aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Dort wird berichtet, wie der persische König Xerxes sich anschickt, mit seiner Armee n Europa einzufallen. Die Historien, die Minato übrigens aus einer Übersetzung von Matteo Maria Boiardo aus dem 15. Jahrhundert kannte, bilden aber nur den Rahmen des Dramas, das im Übrigen auf der Handlung einer mitreißenden Komödie des neapolitanischen Dramatikers Raffaele Tauro aus dem Jahre 1651 mit dem Titel L’ingelosite speranze beruht. Bei Tauros Lustspiel wiederum handelt es sich um eine italienische Fassung von Lo cierto por lo dudoso, einer spanischen Komödie von Lope de Vega aus dem Jahr 1625, im goldenen Zeitalter des spanischen Dramas.
So zählt denn auch die Komik mit gewagten Situationen und schließlich dem Umschlagen der Handlung zu den Stärken dieses Dramas. Das komische Element besteht im Wesentlichen aus den Bemühungen des launischen Xerxes, die schöne Vasallin Romilda für sich zu gewinnen, die allerdings mit dem Bruder des Königs, Arsamene, in treuer Liebe verbunden ist. Die Intrigen, die unvermeidlicherweise folgen, lösen in den Beteiligten eine reichhaltige Welt an Affekten aus, die von einer stilistisch äußerst vielfältigen Musik ausgemalt wird. Jede Figur, ob ernst oder komisch, entspricht niemals einem bloßen Stereotyp, sondern reagiert immer individuell mit einer psychologischen Komplexität auf die Ereignisse, die ganz menschlich und auch einem heutigen Publikum leicht zugänglich sind.
Xerxes ist auch schon ohne dies eine äußerst theatralische Figur. Bereits in den literarischen Texten der frühen Neuzeit wurde dieser persische König als Emblem für Überheblichkeit gesehen. Er ist ein König, der von einer unerhörten Wollust und Maßlosigkeit besessen ist, die – nach Herodot – dazu führt, dass die Götter ihn bestrafen, weil er danach trachtet, die Grenze zwischen menschlichen und göttlichen Werken zu überschreiten. Diese Maßlosigkeit des Titelhelden bildet auch den roten Faden in Minatos Drama, in dem sich alle Figuren bemühen, nicht dem Zorn des wankelmütigen Herrschers anheimzufallen. Jedoch ist es eben diese Maßlosigkeit, die auch das Scheitern von Xerxes Plänen bewirkt, denn der König fällt schlussendlich in eine von ihm selbst gestellte Falle und muss so zusehen, wie die von ihm geliebte Romilda ausgerechnet mit Arsamene, seinem eingeschworenen Rivalen, verheiratet wird. Die tiefe Enttäuschung, die diesem Ereignis folgt, erfüllt eine notwendige kathartische (wenn man so will, pädagogische) Funktion und zwingt den König schließlich dazu, eine Situation, die er nicht mehr beherrschen kann, zu akzeptieren. Dieser psychologische Umschwung kann auch von einem modernen Publikum leicht nachvollzogen werden.
Die durch eine ansprechende Nebenhandlung verdichtete Haupthandlung wird von spektakulären Ereignissen gekrönt, die Minato seinen Quellen entnommen und dann mithilfe seines dramaturgischen Genies angereichert hat. So häufen sich denn Fälle von amouröser Rivalität, vermeintlichem Verrat, Verleumdungen, Verkleidungen, verhindertem Mord, Auftritten von Magiern, zerstörerischen Stürmen, Kriegsszenen und Momenten purer Komik. Aber um die Einzigartigkeit dieser Oper zu erkennen, reicht schon das Erlebnis ihrer ersten Szene, in der wir zusammen mit Xerxes an den Ufern des Hellespont weilen und die majestätische Platane bewundern, die er dann mit Gold behängen lässt und an die er einen der schönsten und berühmtesten Liebesgesänge richtet, die uns das siebzehnte Jahrhundert geschenkt hat – ein Gesang, der auch das Herz Händels berührte: „Ombra mai fu …“
Sara Elisa Stangalino / Hendrik Schulze
(aus „[t]akte“ 1/2019)