Eine alte provenzalische Sage wird zur Vorlage für George Benjamins neue Oper Written on Skin nach einem Text von Martin Crimp. Eine vielschichtige Parabel über die Grenzen der Macht.
Eine alte Geschichte aus dem fernen, finsteren provenzalischen Land der Troubadoure, in dem die Künste hell erblühten, wird zum Ausgangspunkt der Oper Written on Skin von George Benjamin nach einem Text von Martin Crimp. Komponist und Autor begründeten mit Into the Little Hill 2006 ihre Zusammenarbeit: Ihre „lyric tale“ ist eine abgründige Version der Geschichte vom Rattenfänger, in der George Benjamin mit einem Ensemble aus zwei Sängerinnen und fünfzehn Instrumenten zu einem bestrickenden, betörenden Tonfall fand. Die sinistre Fabel wird als Geschichte von Betrug und Verrat eines korrumpierten Politikers und von der Schönheit und Verführung der Musik erzählt: eine doppelbödige Parabel mit Musik von höchster Suggestionskraft.
Nun also eine große, abendfüllende Oper für fünf Sänger und Orchester. Kernstück ist eine bekannte Sage aus dem 13. Jahrhundert, die Geschichte des Troubadours Guillem de Cabestanh, die in einem anonymen okzitanischen Prosatext, einem „razo“ überliefert wurde. Guillem war der Geliebte der Seremonda, der Gattin des Raimon de Castel Rossillon. Ihr Ehemann entdeckte den Betrug und gab seiner Frau das Herz des Guillem zu essen. Als er ihr sagte, was sie gegessen hatte, stürzte sie sich aus dem Fenster. Die Legende hielt Einzug in Boccaccios Decamerone und andere Werke, Guillem gilt seither als das Urbild des provenzalischen Troubadours, sein Schicksal ist ein tragisches Exempel.
In Written on Skin wird die Sage zur grausigen Schlusswendung einer Geschichte über Unterwerfung und Auflehnung, über die verstörenden Konsequenzen der Selbsterfahrung und die Grenzen der Macht, die ein Mensch über den anderen ausüben kann: Ein reicher Landadeliger beauftragt einen Künstler, in einem illustrierten Buch ein hagiografisches Bild seiner Herrschergewalt und seines friedvollen Haushalts abzubilden, letzterer verkörpert in dem bescheidenen und kindgleichen Gehorsam seiner Frau Agnès. Doch das Entstehen des Buches wird zum Katalysator für die Rebellion der Frau. Sie verführt den Künstler und nutzt die Intimität mit ihm, um den Inhalt des Buches zu beeinflussen und ihren Mann zu zwingen, sie als das zu sehen, was sie wirklich ist. Und damit beschwört sie schließlich einen letzten Akt der Auflehnung herauf.
Martin Crimp versetzt diese Geschichte aus der fernen Vergangenheit mit Szenen aus einer heutigen, hochmodernen Welt: in Gestalt von drei „Engeln“, die als Doppelrollen den Künstler, die Schwester der Agnès und deren Mann verkörpern und immer wieder aus der Handlung heraustreten. In der Komposition findet sich, wie Benjamin sagt, „keinerlei Nachahmung mittelalterlicher Musik, allenfalls eine Anspielung auf etwas Archaisches durch die Verwendung gewisser ‚reiner’ Intervalle zwischen den Stimmen. Dies ist keine ‚symphonische’ Oper, und das Orchester spielt in der Regel eine untergeordnete Rolle, indem es die Gesangslinien stützt oder färbt. Seine volle Macht entfaltet sich nur gelegentlich in kleinsten Interludien innerhalb oder zwischen den Szenen. Jedoch habe ich, um jene Kunst der Illustration zu evozieren, die in der Handlung eine so zentrale Rolle spielt, eine breite Palette von instrumentalen Farben ausgenutzt, der ich zwei heute selten genutzte Instrumente beifüge: eine Bass-Viola da gamba und eine Glasharmonika.“ Aus einer anderen Sphäre scheinen dabei die Engel und der junge Künstler zu kommen, für den Benjamin erstmals einen Countertenor einsetzt. Dessen Stimme hat für ihn „automatisch etwas Überirdisches, sogar Mythisches – eben aus einer anderen Welt. Nachdem ich bisher niemals für Countertenor komponiert habe, fand ich es besonders anregend, diese Stimme im selben Register mit dem Sopran zu kombinieren.“
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 2/2012)