[10.10.2012] Paris, Donaueschingen, Wien: Innerhalb weniger Tage stehen drei prominente Uraufführungen von Werken Beat Furrers an: ein komplexes Chorstück, ein Ensemblewerk und ein kammermusikalisches Stück für Bassflöte und Kontrabass.
Enigma
Enigma nennt Beat Furrer eine Serie von fünf Chorkompositionen nach den Profezie des späten Leonardo da Vinci. Die Prophezeiungen des Künstlers und Gelehrten sind eine ins visionäre Futur verkehrte Bestandsaufnahme der sichtbaren Welt, bis hin zur grotesken Verzerrung. Nachdem Enigma I–IV als kurze, teils für Jugendchor konzipierte Stücke entstanden, überhöht Beat Furrer nun mit Enigma V (Paris 26.10.2012) den Zyklus mit einer komplexen, umfangreichen Komposition für Doppelchor. Von Schatten und Abbildern handelt der Text. Die veränderten Formen, die den dahinfliehenden Bewegungen folgen, werden zum Ausgangspunkt für die Komposition: Das Prinzip der Transformation von Partikeln, aneinanderklebend wie Gestalt und Abbild, wird zwischen den Chorgruppen hin und hergespielt, ineinander verzahnt in einer unendlichen Flucht. Kleinste Melodiegebilde werden hervorgetrieben, erweitert, umgebildet, aufgetürmt bis zum gewaltigen Phantom und diffundieren wieder. Letztlich werden die regelmäßige Wiederholung und die Verzerrung bzw. das Espressivo als zwei Prinzipien gegeneinandergestellt. „Man wird Formen und Gestalten von Menschen und Tieren sehen, die eben diesen Tieren und Menschen folgen, wohin sie immer fliehen werden; und es wird die Bewegung des einen wie des anderen sein, aber es wird einem wunderlich vorkommen wegen der verschiedenen Größe, in die sie sich verwandeln“ (Leonardo da Vinci). Die alte Kompositionstechnik des Hoquetus, des Verzahnens von verschiedenen Stimmen zu einem Melodiefluss, liegt dem zugrunde. In Furrers Chorkomposition vollzieht sich zudem eine Transformation der Sprache, denn in Silben aufgesplittert, wiederholt, neu gereiht, ergeben sich aus den Textpartikeln neue Bedeutungen und Ausdrucksdimensionen.
linea dell’orizzonte
„Mich hat das Phänomen des Verdoppelns, aber auch des Verzerrens in einem Schattenbild interessiert und resultierend aus diesem Ineinanderschneiden von Stimmen das Entstehen von Prozesshaftem“, so Beat Furrer. In linea dell’orizzonte, seiner Komposition für das Ensemble Ascolta (Donaueschingen 21.10.2012), wird dieses Transformationsprinzip auf ein heterogenes Instrumentarium aus Klavier, Violine, Violoncello, Klarinette, Trompete, Posaune, Schlagzeug und elektrischer Gitarre übertragen und in einem reichen, vielfältigen Material ausgeführt. Aus dem Ineinander der Stimmen wird eine Studie über den verzerrenden Schatten.
Ira – Arca
Aus diesem Formgedanken ist auch Ira – Arca (Wien 3.11.2012) für Bassflöte und Kontrabass entstanden, das von Eva Furrer und Uli Fussenegger anlässlich des Erste Bank-Preises in Wien uraufgeführt wird: Der Titel bezeichnet, so Beat Furrer, „ein Gestaltungsprinzip der Inkamusiken. Jede Melodie ergänzt sich hoquetusartig abwechselnd aus quasi einatmenden und ausatmenden Teilen. Dies wird hier zum formalen Prinzip. Ira – Arca ist eine Studie über die Form und vielleicht noch etwas mehr.“
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 2/2012)