[10.10.2012] Im Jahre 2013 wird der 100. Geburtstag von Maurice Ohana gefeiert, einem der bedeutendsten französischen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus diesem Anlass soll hier ein Überblick über seine Werke gegeben werden.
Die Komponistin Edith Canat de Chizy schrieb über Ohana: „Ein Mann wie seine Musik: einfach und schwierig zugleich, strahlend und finster im schnellen Wechsel. Seine Stellungnahmen waren stets mutig und direkt“ (S. 261; alle Zitate aus: Edith Canat de Chizy/François: Maurice Ohana, Porcile, Fayard, Paris 2005). Ohana war andalusischer Herkunft und von der physischen Erscheinung her ein Stier. Die Mythologie prägte seine starke Fantasie, er schöpfte seine Vorstellungskraft aus alten Traditionen, suchte jedoch aus einer Skepsis heraus immerzu auch nach neuen Wegen. Wer Ohana kannte, wusste, wie sehr er die überlieferten Werte achtete und wie unermüdlich er danach strebte, über sich selbst hinauszuwachsen. Seine Haltung zur Musik spiegelt ein selbstverfasstes Gebet wider: „Fürst der Himmel und der Musik, / hilf mir weiterhin, / durch Zerstörung Befreiung zu finden und Neues zu schaffen, / bewahre mich stets / vor Akademikern, die richten, verdammen / und sich gegenseitig rühmen, / Meister der Avantgarde zu sein, / gib mir die Gabe, / mir selber widersprechen zu können (…)“ (S. 1).
Maurice Ohana wurde 1913 in Casablanca als ein „Sonnenkind“ (Félix Ibarrondo, S. 248) und Sohn spanischer Eltern geboren. Er studierte in Frankreich Musik und begann seine Laufbahn als Pianist. „Ein Klavier ist fast wie ein lebendiges Tier, ich nenne es Minotaurus“ (S. 324). Wie bei seinem Vorgänger Debussy (den er 1961 mit dem Werk Le tombeau de Claude Debussy würdigte), gipfelte Ohanas kompositorisches Werk für Klavier in zwei Sammlungen von Préludes (Vingt-quatre préludes, 1972/73) bzw. Etüden (Douze études d’interprétation, 1982/85).
Die Mythologie war Ohana Inspirationsquelle für die Schaffung bestimmter Klänge, so zum Beispiel in dem gewaltigen Werk Office des oracles aus dem Jahre 1974, einem 45-minütigen Fresko für drei Vokalgruppen, Instrumentalensemble, Pantomimen und Tänzer in zwölf Teilen, u. a. Alpha (1. Teil), Minotaure aux miroirs (4. Teil) und Pythie (11. Teil); und ebenso in dem sechsteiligen Werk Lys de madrigaux für Solisten, Frauenchor und kleines Instrumentalensemble. Es entstand im Winter 1975/76 und hat die Anmutung eines mittelalterlichen Mysterienspiels für Frauen, bei dem einzelne Szenen aufeinanderfolgen: von Calypso (1. Teil) bis zu Miroir de Sapho (6. Teil). Beide Werke sind der menschlichen Stimme gewidmet, und es ist gerade die Vokalmusik, in der Ohanas Kunst ihren Gipfel erreicht und für die er seine Hauptwerke schafft: z. B. Cris (1968/69), ein Werk, worin Ohanas Einfallsreichtum und Innovationskraft die Singstimmen zu höchster Expressivität führen; die monumentale szenische Kantate Autodafé (geplante Aufführung zu Ohanas 100. Geburtstag in Marseille, der Europäischen Kulturhauptstadt 2013); die Messe aus dem Jahre 1977, die Kammeroper Trois contes de l’Honorable Fleur (1978) und Swan Song (1988); außerdem seien an dieser Stelle die erhabenen Quatre chœurs pour voix d’enfants (1987) genannt.
Alte Überlieferungen, Prähistorie, die Suche nach den Ursprüngen von allem: Davon war Maurice Ohana besessen, und davon ließ sein singuläres Genie sich leiten. Im Zeichen dieser poetischen Mystik schöpfte Ohana das ganze Klangpotenzial des Orchesters aus, und er war ein Meister der Instrumentation: Seine Einfälle wusste er am richtigen Ort einzusetzen, er fand zu den passenden Kombinationen und führte den Hörer geradewegs in das oft dichte, feste Klanggewebe. Dafür zeugen etwa T’Harân-Ngô (1973/74) und Le Livre des prodiges (1978/79), zwei Werke für großes Orchester oder das Cellokonzert Anneau du Tamarit (1976).
Am 13. November 1992, im selben Jahr wie Olivier Messiaen, starb Ohana in Paris. Seine musikalischen Spuren finden sich noch in den Werken von Edith Canat de Chizy, Félix Ibarrondo und Ton-That Tiêt. „Arbeitest du?“ fragte er sie oft. Ja, sie arbeiten.
Benoît Walther
(Übersetzung: Irene Weber-Froboese)