Vor hundert Jahren wurde Fritz Oeser geboren. Der Musikwissenschaftler hat sich als Verleger, Herausgeber (besonders von „Carmen“ und „Hoffmanns Erzählungen“) und Gründervater der Alkor-Edition einen Namen gemacht.
Die 100. Wiederkehr seines Geburtstages ist ein besonders schöner und vor allen Dingen auch sinnvoller Anlass, an den langjährigen, kreativen und musikwissenschaftlich in hohem Maße kompetenten Leiter der Alkor-Edition zu erinnern.
Fritz Oeser wurde am 18. Mai 1911 im ostthüringischen Gera geboren. Von 1930 an studierte Oeser in Leipzig Musikwissenschaft, gleichzeitig auch Schulmusik am Konservatorium der sächsischen Musikmetropole, und wurde 1938 von Helmut Schultz mit einer Arbeit über Die Klangstruktur und ihre Aufgabe in Bruckners Symphonik zum Dr. phil. promoviert. Mit diesem Thema gelang ihm dann sehr rasch der Eintritt in den Leipziger Musikwissenschaftlichen Verlag, in dem er als Lektor und Mitarbeiter der im Entstehen begriffenen (ersten, nicht vollständigen) Anton-Bruckner-Ausgabe mitgewirkt hat.
Nach Kriegszeit als Soldat und kurzer Gefangenschaft in den Jahren 1940 bis 1946 gelang es Oeser 1947, mit dem Bruckner-Verlag und seiner Familie aus Leipzig nach Wiesbaden zu übersiedeln. Dort führte er die Bruckner-Ausgabe (Sämtliche Werke) weiter und edierte darin 1950 selbst die zweite Fassung der 3. Symphonie in d-Moll.
Im Jahre 1955 entstand für Oeser mit dem Umzug nach Kassel eine völlig neue und dann für ein Vierteljahrhundert bestehende Lebenssituation, deren Wendepunkt Karl Vötterle in Haus unterm Stern anschaulich geschildert hat:
„In jenen Monaten [des Jahres 1955] entschied es sich, dass der Bruckner-Verlag Wiesbaden, unter dem Namen Alkor-Edition (Alkor ist die arabische Bezeichnung des Bärenreiter-Sterns) nach Kassel übersiedelte. Dadurch, dass er die Verbreitung der in der ganzen Welt geachteten Wiener Gesamtausgabe der Werke Bruckners besorgte und dass sich dieser nun die Prager Dvoøák-Gesamtausgabe […] zugesellte(n), war plötzlich das bisher fehlende 19. Jahrhundert in meinen Verlagskatalogen vertreten. Dazu kam noch ein wirklicher Glücksfall: Mit dem Bruckner-Verlag kam Dr. Fritz Oeser in mein Haus. Als Kenner der Oper und des Schaffens von Bruckner, Dvořák und Smetana konnte er sich nun ausgiebig dem 19. Jahrhundert widmen.“
Fritz Oeser nutzte diese große Chance und wurde zu einem sein abgestecktes Feld unermüdlich bearbeitender bedeutender Musikverleger und Editor, der sich darüber hinaus auch in essayistischer Form meisterlich auszudrücken verstand. Mittelpunkt von Oesers Arbeiten in Kassel bildete (Karl Vötterle nennt es „Markstein dieser Entwicklung“) 1964 die kritische Neuausgabe der originalen Dialogfassung von Georges Bizets Carmen, zu der der große Theater- und Opernmann Walter Felsenstein die deutsche Textübertragung beigesteuert hat. Diese Großtat hat der Alkor-Edition auf allen Opernbühnen der Welt ein Prestige zukommen lassen, wie es einem Musikverlag nicht alle Tage beschieden ist. Zur Ausgabe „nach den Quellen“ gehört im Anhang-Band aus der Feder von Fritz Oeser selbst ein vorbildlicher Vorlagenbericht (Kritischer Bericht). Haben sich in der Zwischenzeit neue (auch Quellen-)Erkenntnisse ergeben, so spielt Oesers Carmen-Edition nach wie vor, also nach fast einem halben Jahrhundert, international in der „ersten Liga“ mit. Ihr folgte 1977 die Neuausgabe von Jacques Offenbachs Les contes d’Hoffmann.
Unter dem Pseudonym „Paul Friedrich“ widmete sich Oeser – vornehmlich in der Funktion des Übersetzers, aber auch in der des Bearbeiters – dann Bühnenwerken von Ján Cikker, Christoph Willibald Gluck, Carl Millöcker, Nikolai Rimski-Korsakow, Peter Iljitsch Tschaikowski oder von Gioachino Rossini, wobei er sich in vielen Fällen, wie schon bei Carmen der Mitarbeit bedeutender Regisseure seiner Generation, wie etwa Günther Rennert, vergewissert hat.
Fritz Oeser, der seine führende Tätigkeit in der Alkor-Edition und dann auch im Bärenreiter-Leitungskreis bereits 1976 aufgegeben hat, um den Schwerpunkt auf die freischaffende wissenschaftliche Arbeit zu Hause legen zu können, ist nach längerer Krankheit am 23. Februar 1982 70-jährig in Kassel gestorben.
Wolfgang Rehm