„Hänsel und Gretel“ hat seinen Stammplatz unter den meistgespielten Opern. Aber darüber hinaus bieten Humperdincks Märchenopern, Schauspielmusiken und Orchesterwerke reichlich Gelegenheit zu Entdeckungen. Am 27. September 2021 vor hundert Jahren starb der Komponist.
Es gibt Komponisten, die weltbekannt sind, mit deren Namen aber nur ein einziges Stück verbunden ist, obwohl ihr Œuvre vielfältiger, reicher und farbiger ist. Für Dramaturgen, Programmplaner und Interpreten sind solche Komponisten eine Chance, da zumindest der Name auf den Programmen Publikum anzulocken verspricht. Für die Interpreten bietet sich die Chance, Neuland zu erkunden und doch schon vorher zu wissen, welcher Dialekt dort gesprochen wird.
Als Engelbert Humperdinck mit der Märchenoper Hänsel und Gretel seine über ein Jahrzehnt dauernde und durch sein ausführliches Engagement für die Musik Richard Wagners ausgelöste Schaffenskrise beenden konnte, war sicher weder ihm noch seinen Verwandten und Freunden klar, dass hier ein Welterfolg, Kassenschlager und gleichzeitig auch ein künstlerischer Fluch geboren war, der Humperdinck bis an sein Berufsende verfolgen sollte. Natürlich war mit der Oper eine große Last von Humperdincks Schultern genommen. Der Erfolg verselbständigte sich in kurzer Zeit so weit, dass finanzielle Sorgen nicht mehr zu befürchten waren. Gleichzeitig war aber der Druck übermächtig, etwas dem Stück Ebenbürtiges zu schaffen. Dabei war es nicht so, dass der Komponist sich nicht in verschiedenen Genres mit unterschiedlichen Ideen und innovativer Schöpferkraft als kreativer Tonsetzer bewiesen hätte. Alleine der große zweite Wurf wollte und sollte nicht gelingen.
Im Abstand von nun über hundert Jahren muss man das Werk Humperdincks allerdings umfassender betrachten und sieht, auch durch mittlerweile erfolgte Wiederaufführungen von unbekannteren Werken und Aufnahmen fast des gesamten Œuvres, mit breiterem Blick auf sein Schaffen. Und hier gibt es nach wie vor Schätze zu entdecken.
Erst in diesem Jahr wagte Michael Hofstetter mit seinem Gießener Theaterorchester und Ensemble einen ersten Versuch, die Melodramfassung von Königskinder, Humperdincks zweiter großer Märchenoper, wieder ins Repertoire zu holen. Die Spätfassung des Werkes ist ja bereits seit einigen Jahren mit Aufführungen nicht nur an den großen Opernhäusern wieder fest im Werkekanon der Musiktheaterbühnen verankert. Die Frühfassung ist in ihrer innovativen Verbindung des später von Arnold Schönberg aufgegriffenen musikalisch notierten Sprechens mit dem spätromantischen, überragend instrumentierten typischen Humperdinck-Klang eine beachtliche Herausforderung, besonders dadurch, dass sie Darsteller erfordert, die der hochartifiziellen Kunstform des Sprechens auf einer vorgegebenen Sprachmelodie und einem auskomponierten Sprachrhythmus gewachsen sind. Das Stück harrt einer aktuellen szenischen Interpretation und wäre in solcher Form sicher eine Chance gerade für kleinere Bühnen, sich überregionale Aufmerksamkeit zu verschaffen. Bereits die Ouvertüre zu dieser Fassung ist bemerkenswert, nimmt sie doch in ihrer Dimension vieles von der späteren Konzertouvertüre vorweg. Auch sie ist also eine Entdeckung für sinfonische Programme wert, ebenso wie man aus dieser Fassung hervorragend eine circa fünfundzwanzigminütige symphonische Suite mit den drei Stücken Vorspiel – „Hellafest und Kinderreigen“, „Verdorben, gestorben“, „Spielmanns letzter Gesang“ – extrahieren kann.
Ein weiteres gewichtiges und wunderschönes Werk aus der Feder des Komponisten ist die unterschätzte Märchenoper Dornröschen. Manchem mögen die fünf Tonbilder, die ab und zu den Weg in die Konzertsäle finden, bekannt sein. Das komplette Werk gibt es jedoch extrem selten. Eine konzertante Aufführung des Münchner Rundfunkorchesters ist 2011 als Aufnahme erschienen. 2014 wagte das Nordharzer Städtebundtheater eine szenische Aufführung der zu Unrecht vergessenen Oper. Problematisch bleibt wohl das Libretto des Werkes, welches das grimmsche Märchen durch einige neu eingeführte Umwege des Helden zu verlängern sucht. Eine Aufführung jedoch, die damit bewusst und kreativ umgeht, wird mit dem märchenhaften Schwung dieses musikalisch opulenten Musiktheaters und seiner reizvollen Mischung aus Gesang und notierter Sprachmelodie unzweifelhaft Erfolg haben.
Von einer weiteren Oper ist es vor allem die Ouvertüre, die für Konzertprogramme von großem Interesse sein kann. Musikalisch ist Die Heirat wider Willen so etwas wie Humperdincks Rosenkavalier. Sein Humor und seine unvergleichliche Fähigkeit, Leichtigkeit zu komponieren in einer Zeit, in der alles schwer am Boden haftet, wird in diesem wunderschönen Vorspiel besonders gut deutlich.
Für das Konzertpublikum nach wie vor fast unbekannt sind Humperdincks zauberhafte Schauspielmusiken. Ideal geeignet für kurzweilige Programme, hervorragend zur Kombination mit Texten geeignet, sind gerade die Shakespeare-Musiken wahrlich eine Wiederentdeckung wert. Die mendelssohnsche Leichtigkeit, die Humperdinck im Tanz der Luft- und Wassergeister aus Der Sturm findet, die an Wagner gemahnende Innigkeit der Liebesszene „In solcher Nacht“ aus Der Kaufmann von Venedig und die Richard Strauss‘ Spätstil vorwegnehmende Serenade aus Was ihr wollt zeigen die Früchte der engen Zusammenarbeit des Komponisten mit dem Regisseur Max Reinhardt.
Nicht zu vergessen ist natürlich Humperdincks wichtigstes und größtes sinfonisches Werk, die knapp vierzigminütige Maurische Rhapsodie. Die drei überaus farbigen Sätze „Tarifa“, „Tanger“ und „Tetuan“ brauchen den Vergleich mit den Tondichtungen von Richard Strauss nicht zu scheuen. Jedes groß besetzte Orchester wird in diesem Stück eine dankbare Herausforderung sehen und jedes Publikum wird mit dankbarer Gänsehaut auf das zweite Thema im abschließenden Wüstenritt reagieren. Humperdincks Instrumentationskunst kommt hier zur vollen Blüte und sein sympathischer und unverwechselbarer Humor begleitet uns durch das belebte Café in Tanger bis zu den Zwölftolen der letzten Fata Morgana.
Dass Engelbert Humperdinck zu den Komponisten gehörte, die nach einem ersten übergroßen Erfolg nie an diesen anknüpfen konnten, mag bedauerlich sein. Auf der anderen Seite wartet dadurch auf uns Interpreten eine wahre Schatztruhe an Möglichkeiten. Denn der Tonsetzer war auch ein Aufführungspraktiker. All seine Werke bieten hervorragende Anknüpfungspunkte für diverse Konzertformate, die eine reine Rampensituation aufbrechen wollen. Zum einen ist da die Volkstümlichkeit seiner Musik. Das Erfolgsrezept seiner bekanntesten Märchenoper hat Humperdinck durch sein ganzes Komponistenleben beibehalten und Musik geschaffen, die in Erinnerung bleibt, die auch nach dem Konzert weiterschwingt. Seine Theateraffinität, der Wunsch, Text und Musik zu Einheiten zu verschmelzen, bieten unzählige Möglichkeiten, Poesie und Musik in Konzerten und Theaterproduktionen miteinander zu verweben. Indes ist Engelbert Humperdinck eben der bekannte Unbekannte, der vertraute Fremde. Und als solcher passt er gerade mit der Publikumsnähe seiner Werke, seinem immer für die Musik begeisternden musikvermittlerischen Ansatz als Komponist hervorragend in unsere Gegenwart.
Florian Ludwig
(aus [t]akte 2/2019)
Florian Ludwig, der Autor dieses Beitrags, leitet am 24.5.2020 im Detmolder Konzerthaus eine konzertante Aufführung von „Dornröschen“ mit Vokalsolisten, einem Sprecher, dem Detmolder Oratorienchor sowie der Nordwestdeutschen Philharmonie.