Jonathan Harvey, der am 4. Dezember 2012 im Alter von 73 Jahren verstarb, war einer der führenden Komponisten aller Musikgenres im Vereinigten Königreich; ein Komponist, dessen Werke ebenso gut in einer kirchlichen Abendandacht wie in Pierre Boulez’ elektroakustischen Forschungsinstitut IRCAM aufgeführt werden können. Es ist unmöglich, ihn in eine Schublade zu stecken.
Harvey studierte Komposition bei Benjamin Britten, Erwin Stein, Hans Keller und Milton Babbitt. Er nahm außerdem 1966 und 1967 an Karlheinz Stockhausens Kompositionskursen in Darmstadt teil, was ihn stark beeinflusste.
Obwohl elf Jahre jünger als Stockhausen, wurde Harvey ihm als Pionier im Bereich der elektroakustischen Musik ebenbürtig, einem Feld, in dem er sich beständiger engagierte als jeder andere in Großbritannien. Seine elektronischen Werke reichen von Inner Light I für 7 Instrumente und Tonband (1973), Benjamin Britten zu dessen 60. Geburtstag gewidmet und mit einfacher Analogausstattung wie Ringmodulatoren und Varispeed-Tonbandgeräten aufgenommen, bis hin zu Speakings (2008) für Orchester und Elektronik, das vor wenigen Jahren mit der modernsten Software des IRCAM fertiggestellt wurde. Für Speakings wurde Harvey 2009 der „Prix de Composition de la Fondation Prince Pierre de Monaco“ verliehen. Leider war dies auch sein letztes großes Orchesterstück. Harveys bekanntestes elektronisches Stück ist gleichzeitig eines der berühmtesten dieses Genres, Mortuos Plango, Vivos Voco (1980, IRCAM). Der Komponist verbindet darin die aufgenommene und resynthetisierte Tenorglocke der Kathedrale von Winchester mit der Stimme seines Sohnes Dominic, der zu dieser Zeit im Winchester Cathedral Choir sang. Das wohlklingende feierliche Ergebnis wurde unmittelbar zu einem internationalen Erfolg und ist bis heute ein Klassiker dieses Genres geblieben. Ingesamt komponierte Harvey in den letzten dreißig Jahren etwa zehn elektronische Stücke im IRCAM, mehr als jeder Komponist zuvor – Boulez selbst eingeschlossen: Diese Arbeiten bilden dort das Rückgrat des jüngsten elektronischen Repertoires.
Harveys vier Streichquartette wurden schnell in das Repertoire der Kammermusik aufgenommen, einige wurden seitdem mehr als einmal eingespielt. Als produktiver Komponist schuf er Musik für alle Genres, von bekannten Solowerken wie Curve with Plateau für Cello (1982), bis hin zu großformatigen Opern, von denen Wagner Dream (2004) wahrscheinlich die bekannteste ist. Alle seine Arbeiten sind geprägt von einer genauen Kenntnis der Potenziale der Instrumente. Harvey arbeitete lange und erfolgreich mit vielen der besten Künstler seiner Zeit zusammen, wie beispielsweise mit der Cellistin Frances-Marie Uitti, den Dirigenten Pierre Boulez, Sir Simon Rattle und Ilan Volkov, dem Arditti Quartet, dem Ensemble intercontemporain, dem Ensemble Modern, Ictus, L’Itineraire und vielen anderen.
Harvey komponierte außerdem zahlreiche beliebte Stücke für die vielen britischen Kathedralchöre. Von ihnen sind I love the Lord (1976) und The Angels (1994) die am häufigsten aufgenommenen und aufgeführten Werke. Harvey war Sänger im St. Michael’s College in Tenbury, und dieser Bereich seines Schaffens lag ihm sehr am Herzen. Viele dieser Choräle gehören zum Grundrepertoire der Kirchen in ganz Großbritannien.
In den letzten Jahren meisterte Harvey unerschrocken die fortschreitenden Einschränkungen in Folge seiner Krankheit – ironischerweise derselben, der bereits sein von ihm so geschätzter Lehrer Hans Keller in den 1980ern erlag. Nichtsdestotrotz komponierte er weiter und nahm gegen Ende nur motorische Unterstützung in Anspruch, als das Schreiben unmöglich wurde. In einem erstaunlichen Maße bewahrte er sich dabei seinen Sinn für Humor: So bemerkte er wenige Wochen vor seinem Tode ironisch, dass eines seiner letzten Werke 80 Breaths for Tokyo heiße, aber alles, was er im Moment benötige, ein einziger tiefer Atemzug sei.
Julian Anderson
(Übersetzung: Christoph Rinne)
(aus [t]akte 1/2013)