Nicht jede Generation hat das Glück, ihren Lehrer zu finden. Die Prager Studenten der Musikwissenschaft und der Komposition fanden ihn in den vergangenen 20 Jahren in Milan Slavický, der am 18. August in Prag starb. Ein persönlicher Nachruf seines Schülers Miroslav Srnka.
Ad fontes
Milan Slavický war bescheiden und reich. Eigentlich erwähnte er sein „familiäres Erbe” nur als einen Witz: In der Komposition war er ein „Urenkel“ sowohl Antonín Dvoráks, bei dem einer seiner Großväter, Kamil Voborský, studiert hatte, als auch Leoš Janáceks, bei dem wiederum sein anderer Großvater, Klement Slavický sr., Unterricht erhalten hatte. Und bezüglich seines Vaters Klement Slavický jr. war er „Komponistenenkel” von Josef Suk. Milan Slavický aber fand von Beginn an seine eigene Sprache, frei vom Folklorismus seiner Vorfahren und inspiriert von der Komponistenikone der sechziger Jahre Miloslav Kabelác: In eine feste Form legte er das Material aus einer festen Intervallauswahl.
Zwei Kapitel aus der Apokalypse
Milan Slavický war arbeitsam. Bereits in den siebziger Jahren wurde er zum erfolgreichsten Mitglied der berühmten Komponistenfamilie, viele seiner Werke wurden im Ausland aufgeführt. Er gründete eine Familie, aus einer schönen Beziehung mit Eva Háchová, seiner Kommilitonin aus Zeiten seines Studiums der Musikwissenschaft. Seine Laufbahn begann er als herausragender Produzent bei Supraphon. Das rasende Arbeitstempo und das nicht leichte Leben in der politischen Zeitlosigkeit der siebziger Jahre wurde von seiner ersten Krebserkrankung im Jahre 1980 unterbrochen. Seine Heilung stellte die Karriere in seinem Wertesystem endgültig an eine Position hinter Familie, Glaube und Gewissen.
Weg des Herzens
Milan Slavický war frei. Die gesamten achtziger Jahre hindurch bewegte er sich mit der tschechischen Musik in einer besonderen Rolle: Er war freiberuflicher Komponist und Tonmeister. Als dieser erlebte er die goldene Ära der Aufnahmen bei Supraphon, in der in- und ausländische Spitzeninterpreten das Archiv mit beispielhaften und manchmal bis heute einzigartigen Aufnahmen des tschechischen Basisrepertoires bereicherten. Dvoøáks Requiem und Stabat Mater mit Wolfgang Sawallisch, Mahlers Dritte und Achte mit Václav Neumann, die Gesamtaufnahme der Quartette Hábas mit dem Stamic-Quartett. Von den 550 CDs, deren Regie in Milan Slavickýs Hand lag, legte er in schweren Stunden am liebsten das Sopransolo von Gabriela Beòaèková aus Dvoráks Te Deum auf.
„Ich dien”
Milan Slavický war weise. Anfang der neunziger Jahre stürzte er sich in öffentliche Funktionen. Vor allem die Arbeit als Dramaturg und stellvertretender Vorsitzender des Vorstands bei der Tschechischen Philharmonie 1992 bis 1995 schien für ihn jedoch schließlich eine Enttäuschung gewesen zu sein, die durch eine zweite Rückkehr der Krankheit beendet wurde. Die öffentliche Tätigkeit verband er mit einer Arbeit, bei der persönliche und politische Befindlichkeiten keine solch große Rolle spielten – auf akademischem Boden. Von Petr Eben übernahm er zunächst die analytischen Fächer an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität und später dann eine Stelle als Professor für Komposition an der Prager Musikakademie der musischen Künste. In der Lehre – und mit Vorträgen im Ausland in deutscher, englischer und französischer Sprache – fand Milan Slavický schließlich zu sich selbst.
Auch seine subtile musikwissenschaftliche Tätigkeit erfuhr 1995 eine unerwartete Wendung, als Slavický eine Monographie über Gideon Klein herausgab, dessen komplettes Vorkriegswerk 1990 zufällig in einem ein halbes Jahrhundert unberührt gebliebenen Koffer gefunden wurde.
Requiem
Milan Slavický war gläubig. Als 1999 sein Vater Klement starb, machte er sich an seine in ihrem Umfang und ihrem Inhalt größte Komposition. Sein Requiem (2000/2001) ergriff das Premierenpublikum unerwartet und direkt. Fast dreißig Jahre lang – vielleicht aus dem Bedürfnis heraus, innerlich in den politisch unsicheren Zeiten Halt zu finden – arbeitete Slavický mit unveränderter Intervallauswahl, die in dieser Komposition zu einem symbolischen Abschluss einer langen, in den sechziger Jahren begonnenen Etappe der tschechischen Musik reifte.
Vom Requiem an stellte sich Milan Slavický nur noch langfristige Aufgaben, die kein anderer erfüllen konnte. Er hielt Vorlesungen zu sensiblen, strittigen Themen (wie zum Beispiel der Musik und Politik im 20. Jahrhundert), was er vorher immer vermieden hatte. Er schrieb seine Memoiren, die viele unbekannte Zusammenhänge aus der tschechischen Musik der letzten Jahrzehnte aufzudecken versprachen. Er ordnete den Nachlass seines Vaters, in dem er zwei ergebnislose Skizzen eines Klavierkonzertes entdeckte. Er begann, ein eigenes zu schreiben, doch auch er konnte es nicht mehr fertigstellen.
Porta coeli
Milan Slavický war ein Mann mit Noblesse, der zuhören konnte. Am Ende seines Lebens pflegte er zu sagen, am besten verstehe er sich mit Menschen zwischen dreißig und vierzig – mit der ersten Generation seiner Schüler. Unter diesen hat er die meisten neuen Freunde gefunden. Er hinterließ ihnen ein starkes und völlig kompaktes kompositorisches Werk. Nicht ein einziges Mal hat er darin dem kommunistischen System gedient. Und als dann Freiheit herrschte, ließ er sich nicht einmal zu lächerlichen Versuchen um „Verständlichkeit” herab.
Und Milan Slavický war fröhlich. Nie machte man Witze über ihn, man erzählte sich nämlich seine Witze. Der Humor ist ihm bis zuletzt geblieben. Als der Krebs das dritte Mal zurückkehrte, unterwarf er sein Leben dem beliebten Formschema ABACA, das er über Jahre hinweg so hübsch an die Tafel gemalt hatte: „Ein Rondo entsteht erst dadurch [das dritte Auftreten der Krankheit], wobei das erste A (1980) scharf und lang war, das zweite (1995) recht mäßig, und nun sehen wir, ob angesichts der Ausgewogenheit der Form eher ein energischerer Charakter zu erwarten ist … Ich, der ich als alter Fuchs zum dritten Mal über solch ein Minenfeld laufe, der ich einen starken Draht nach oben habe, einen Baum gepflanzt, ein Haus gebaut, eigene Kinder erzogen und fremde unterrichtet, etwas geschrieben habe und niemandem etwas schuldig geblieben bin, sehe diesem Ereignis in Ruhe und aller Sachlichkeit entgegen, fast als würde ich es von außen betrachten – wir werden sehen.”
Nicht jeder Komponist hat das Glück, seinen Lehrer zu finden. Ich hatte dieses Glück und habe Milan Slavický die Hälfte meines Lebens gekannt. Er hat zu einem hohen Maße mitbestimmt, wie der Rest verlaufen wird.
Miroslav Srnka
(Übersetzung: Silke Klein)
aus: [t]akte 2/2009
Komponist, Produzent, Lehrer, Freund. Zum Tode von Milan Slavický
Werke von Milan Slavický (Auswahl)
Ad fontes, Überlegung für Streichorchester (1989)
Zwei Kapitel aus der Apokalypse für großes Orchester (1995)
Weg des Herzens, eine Geschichte für Violine, Bläser und Schlagzeug, Celesta und Harfe (1978)
„Ich dien”, Meditation für Kammerorchester (1995)
Requiem für Mezzosopran, Bariton, Chor und Orchester (2000/2001)
Porta coeli, Symphonische Vision für großes Orchester (1991)
Sursum corda für Orgel solo (1993)
Tre toccate für Schlagzeug (1984)
Adventsgedanken für Streichquartett (2002)
Verlag: Editio Bärenreiter Praha, weitere Informationen: www.ebp.cz und www.musica.cz/slavicky