Am 22. Oktober 2009 feierte Manfred Trojahn seinen 60. Geburtstag. Robert Maschka geht den Spuren der „alten Formen” in Trojahns Œuvre nach, um das Moderne zu finden, das sich in allen üppig gefüllten Werkgruppen des Komponisten offenbart.
Als Johannes Brahms 1864 Richard Wagner seine Händel-Variationen vorspielte, soll Wagner den jüngeren Konkurrenten gelobt haben: „Man sieht, was sich in den alten Formen noch leisten lässt, wenn einer kommt, der versteht, sie zu behandeln.” Bis in unsere Gegenwart hinein gibt Wagners Brahms-Lob den Tenor für den Diskurs über ein zwischen avantgardistischer Ästhetik und geschichtsbewusstem Umgang mit der Tradition oszillierendes zeitgenössisches Komponieren vor. Insbesondere hat jener stille Vorbehalt gegen allzu große Traditionsnähe, wie er in Wagners ein wenig gönnerhaftem Tonfall anklingt, die Zeiten überdauert, obwohl rund zwei Generationen später ausgerechnet ein Übervater der Moderne, nämlich Arnold Schönberg, Brahms als einen Fortschrittlichen rühmte.
Gattungstraditionen
Mit Manfred Trojahn verfügt das Musikleben unserer Zeit über einen Komponisten, der – anders natürlich als Brahms – „den alten Formen” noch etwas abgewinnen kann. Und so lässt sich, was heutzutage gewiss nicht mehr die Regel ist, Trojahns Œuvre ohne Mühe in ein nach herkömmlichen Gattungen gegliedertes Werkverzeichnis einordnen, wobei Trojahn dank der geradezu proteischen Anverwandlungskunst der Allround-Komponisten aus dem 18. Jahrhundert wohl kaum einer der geläufigen musikalischen Gattungen ausgewichen ist. Und doch besteht zwischen Trojahn und diesen Vorgängern ein grundlegender Unterschied: Die überkommenen Gattungen und Formen sind Trojahn nicht mehr selbstverständlich. Vielmehr wird die historische Entfernung in Trojahns Werkkonzeptionen bedacht und thematisiert, worüber hier in einer knappen Werksichtung gesprochen werden soll.
So führt in der Musik für zwei Klaviere La Folia aus dem Jahr 1982 ein freier, aus toccatisch-barockisierendem Figurenwerk gefügter Teil über variative Stationen in einen sich in höchste Höhen verflüchtigenden Epilog, in dem die d-Moll-Welt der altehrwürdigen Folia ins Unwiederbringliche zu entschwinden scheint. Eine vergleichbare Konzeption wählte Trojahn für seine Schubert-Annäherung für Streichquartett und Sopran Palinsesto aus dem Jahr 1996, das sich als Vergegenwärtigungsprozess von Schuberts Goethe-Lied Nähe des Geliebten beschreiben lässt: Aus ätherischen Streicherfigurationen scheinen zunächst wie in einem Palimpsest Fragmente, dann vollends die Schlussstrophe des Liedes auf. Die Streicher fallen daraufhin ins tönende Schweigen, doch erst das Zitat des schubertschen Lied-Nachspiels setzt den vollgültigen Schluss. Wieder anders changiert Trojahns 3. Streichquartett aus dem Jahr 1983 zwischen den Zeiten: Einerseits lässt es sich als Beethoven-Hommage hören, was die flexible Disposition der höchst spannend aufeinander reagierenden und miteinander kommunizierenden Stimmen anbelangt, zumal das knapp bemessene motivische Material der vier Sätze ungemein pointiert und prägnant gestaltet ist. Andererseits klingt in keiner einzigen Note Beethoven an, vielmehr teilt sich hier unmissverständlich ein Künstler des späten 20. Jahrhunderts mit, wie an der dem Aphorismus zuneigenden Anlage der Sätze, an der Harmonik und am gestischen Duktus der Klangformulierungen zu erkennen ist.
In seiner bislang letzten, der 5. Sinfonie von 2004 wiederum stellt sich Trojahn der Gattungstradition in mehrfacher Hinsicht. So dokumentiert sich bereits im großen Orchesterapparat dieses dreisätzigen Werks eine ins Monumentale strebende sinfonische Haltung, die im ersten Satz durch dichte motivische Arbeit beglaubigt wird. Das anschließende Intermezzo mit seinen schemenhaft aufscheinenden Klanggestalten mutet dann in der Art einer nicht ganz geheuren Nachtmusik wie ein neuromantisches Charakterstück an, während die Schluss-Elegia im ruhigen Atem des Melos eine sinfonische Zeitvorstellung imaginiert, die die Faktizität der realen Zeit vergessen macht.
Positionsbestimmungen
Musikalisch eine Haltung zu formulieren, das mag ohnehin ein Anliegen von Trojahns Komponieren sein. Im 2003 revidierten Requiem von 1983/85 ist deshalb mit Bedacht auf Strawinskys Requiem Canticles motivisch Bezug genommen. Denn wie Strawinsky so ist es auch Trojahn in seiner Requiem-Version nicht um eine klangmalerisch-dramatisierende Ausdeutung des Textes – vergleichbar den Totenmessen aus romantischer Zeit – zu tun, dafür um eine Darstellungsweise, die liturgische Funktion und Sakralität der Texte ins kompositorische Kalkül zieht.
Indem also Trojahns Kompositionen Positionsbestimmungen zum Vorhandenen beinhalten, vernimmt der Hörer keine Fremdsprache, sondern ein bei aller Neuheit vertraut anmutendes, will sagen: verstehbares Klangidiom. Und solcher Positionierungswille kann sogar zu einer Art Komponistenfortschreibung führen. So würde selbst der uninformierte Hörer bei den Three Songs by Lord Tennyson von 1996 aufgrund des lyrischen Duktus und der klaren Disposition der Lieder unwillkürlich an jenen Komponisten denken, dessen Andenken sie dann tatsächlich auch gewidmet sind, nämlich an Benjamin Britten. Damit bezeugt Trojahn in diesen Liedern, dass eine Liedkunst im Geiste Brittens heute noch möglich ist. Und auch sein übriges Liedschaffen ist dank Trojahns Vermögen, Expressivität, Sensibilität und Nuanciertheit Musik werden zu lassen, eine einzige Widerlegung jener modischen Auffassung, dass Poesie in Noten eine überlebte Kunstäußerung sei, weshalb Schumanns Kinderscenen-Titel der „Der Dichter spricht“ auf die Haltung des Liedkomponisten Trojahn gemünzt sein könnte.
Theater in der Oper
Wie aber wirkt sich das Bestreben, geschichtsbewusste Haltungen kompositorisch zu realisieren, auf Trojahns Opernschaffen aus? Da Eine-Haltung-Einnehmen und Eine-Rolle-Spielen verwandte Prinzipien sind, ist es nicht verwunderlich, dass Trojahn seine Opern vom Personal her konzipiert. Er wurde dadurch zu einem Erneuerer eines Musiktheatertyps mozartischer, beziehungsweise italienischer Prägung, das von den Protagonisten her dachte. Dazu schlüpft Trojahn quasi in jedes seiner Bühnengeschöpfe hinein. Und durch diesen Kunstgriff gibt er sich den Anschein, gerade kein allwissender Erzähler zu sein, selbst wenn er in Was ihr wollt (1998) die Protagonisten vom aufbrausenden Wind in den Zwischenspielen sozusagen auf die Bühne fegen lässt.
So gibt Trojahns Bühnenpersonal auf eminent theatralische, vitale und beredsame Weise darüber Auskunft, dass es sich selbst ein Rätsel ist und sich selbst nicht recht kennt. Bereits in Enrico (1991) und in Was ihr wollt aber auch in den Nachfolgeopern Limonen aus Sizilien (2003) oder La Grande Magia (2008) werden Theater auf dem Theater, Selbstinszenierung und damit die Rolle, die einer dem anderen vorspielt, zu Daseinsmetaphern. Stilisierung, Zitat, Allusion und Anspielung sind hierbei kompositorische Mittel zur Darstellung jener verloren gegangenen Selbstgewissheit, die Trojahns nach ihrem Selbst suchende Bühnenfiguren zu Sinnbildern moderner Befindlichkeit machen. Indem der Komponist dieses gebrochene Daseinsgefühl des verunsicherten heutigen Menschen Kunst werden lässt, mag erkennbar sein, warum Trojahn, um Schönbergs Brahms-Diktum aufzunehmen, ein Fortschrittlicher ist. Und so hören wir zu Trojahns 60. Geburtstag in sein reiches Werk hinein, damit er uns als Person noch vertrauter wird; denn mit Brahms könnte Trojahn, da seine Musik wie kaum eine andere unserer Zeit Klangrede ist, von sich selber sagen: „In meinen Tönen spreche ich.“
Robert Maschka
aus [t]akte 2/2009