Am 19. Mai starb der englische Komponist Nicholas Maw im Alter von 73 Jahren. Andrew Burn, einer der besten Kenner der englischen Musik der Gegenwart und Freund des Verstorbenen, zieht die Summe aus dem Œuvre des Komponisten.
Scenes and Arias war Nicholas Maws Werk, das alle seine nachfolgenden Werke möglich machte. Zum ersten Mal folgte er dabei eher seinem inneren Ohr, statt Musik zu komponieren, die den vorherrschenden modernen Stilen der 1960er-Jahre entsprach. Danach wusste er, dass seine Wurzeln in die Zeit zwischen 1860 und 1914 reichten und dass er versuchen würde, mit seiner Musik wieder an die Tradition der Romantik anzuknüpfen, die mit dem Beginn der Moderne ihr Ende gefunden hatte. Im Kontext mit Maws zeitgenössischen britischen Komponisten, die wie er in den 1930er-Jahren geboren wurden, zum Beispiel Maxwell Davies, Birtwistle und Bennett, trieben ihn seine Ambitionen in eine Richtung, die anfangs für rückwärtsgerichtet gehalten wurde. Aber im Nachhinein ebnete Maw den Weg für Komponisten der nachfolgenden Generation, die sich ebenfalls wieder mit der Romantik beschäftigten.
Welche Merkmale waren es, die seine Musik zu etwas Besonderem machten? Zunächst ihre Lyrik: „Musik muss in der Lage sein, zu singen.”, war Nicholas’ feste Überzeugung. „Man muss melodisches Material schreiben, das man sich sofort merken kann, das eingängig und aussagekräftig ist.“ Dies veranschaulicht zum Beispiel das Violinkonzert mit dem eröffnenden lyrisch ausgeweiteten Thema, das singend schrittweise anwächst, ebenso wie die wundervolle, vom Cello zu Beginn des Klaviertrio-Finales eingeführte Melodie. Und dann seine Harmonik, in der er serielle und tonale Spannungen auf eine ganz eigene Art ausnutzt – „da müssen Harmonien sein, keine Akkorde”, erklärte er und setzte dies in den Solo-Klavierwerken unter dem Sammeltitel Personae um. Maw besaß ein ausgeprägtes Gespür für instrumentale Farben, was an den Ensemblewerken wie Ghost Dances und Shahnama deutlich wird und wiederum einen anderen Aspekt seiner Kompositionen eröffnet, Reihen von Charakterstücken umfassen, den Alben oder Studien der Romantik vergleichbar – ein weiteres Beispiel für den Versuch, den Formen der Mitte und des späten 19. Jahrhunderts neues Leben einzuhauchen. Schließlich – und an Bruckner erinnernd – war da noch seine Fähigkeit, im großen Stil zu denken, sich zu bemühen, „wieder die Fähigkeit zurückzugewinnen, riesige Abschnitte zu hören, die unabdingbar aufeinanderfolgen”. Vorzüglich gelang ihm dies in seinem großen Orchesterwerk Odyssey, das mit mehr als 90 Minuten zu den längsten Orchesterwerken gehört, die je geschrieben wurden. Die Wirkung, die das Werk während einer Aufführung ausübt, bleibt unvergesslich.
Nicholas Maw komponierte auch Orchesterstücke, eine Gattung, in der er sich instinktiv zu Hause fühlte: „Ich liebe den Orchesterklang, ich halte ihn für mein Instrument”. Seine orchestrale Meisterschaft wird offensichtlich in Werken wie The World in the Evening, stimmungsvoll und beladen mit mahlerscher Resignation, oder Spring Music, deren Eröffnung in eine sich üppig entwickelnde Musik eintaucht. Ebenso zeigt Life Studies einen fantastischen Streichersatz, während American Games für symphonisches Blasorchester seine Vorliebe für hochwertige leichte Musik verdeutlicht, die überschäumend und lustig ist und die es zu spielen sich lohnt. Musiker sagen es immer wieder, wie sie es genießen, Maws Musik zu spielen.
Auch Sänger halten seine Musik für lohnend. Seine vergleichsweise bescheidene Hinterlassenschaft an Chorwerken schließt das grüblerische, virtuose The Ruin für Doppelchor und Horn ein sowie, ein kleines Meisterwerk, One Foot in Eden Still, I Stand, ein Werk, das nie seine Wirkung auf den Zuhörer verliert.
Für Nicholas Maw stellt die Oper Sophie’s Choice, die auf einer Novelle von William Styrons basiert, zweifellos seine Glanzleistung dar. Er verwendete größte Sorgfalt und Aufmerksamkeit auf die Komposition und war tief unglücklich, als manche Kritiker sie nicht ernst nahmen. Wie auch immer: Die Bewunderer übertrafen die Kritiker. Für Simon Rattle, der die Premiere dirigierte, wurde sie „augenblicklich zu einem Klassiker, ein Stück, das die Menschen sofort berühren und bewegen wird”. Das gelang in der Tat und wiederholte sich in ähnlicher Weise bei den nachfolgenden Premieren in Deutschland, Australien und den USA.
Der Wunsch, mit den Zuhörern zu kommunizieren und Musik zu schreiben, die die Ausführenden genießen können, war die Antriebskraft für den Komponisten; man könnte ihn nie als einen Komponisten im Elfenbeinturm bezeichnen. Maw beschreibt es so: „[ich] trachtete danach, die Musik zurück in das Zentrum dessen zu bringen, was wichtig ist im Leben der Menschen, so wie es das Theater und Literatur sind – und ich sehe händeringend den Tagen entgegen, in denen sich die Leute wieder für zeitgenössische Musik begeistern können”. Wohl ist es vor allem diese Begeisterung, die ihn zu einem der individuellsten und wichtigsten Stimmen der britischen Musik des 20. Jahrhunderts gemacht hat. Und sie ist es auch, weshalb ich glaube, dass Werke wie Sophie’s Choice und Odyssey auch noch in einem Jahrhundert aufgeführt werden. Die Musik ist einfach zu gut dafür, vergessen zu werden.
Andrew Burn
(Übersetzung: Jutta Weis)
aus: [t]akte 2/2009
Die Werke von Nicholas Maw sind bei Faber Music erschienen. Leihmaterial in D, A, CH: Alkor-Edition