Anlässlich des 100. Geburtstags des Komponisten in diesem Jahr ist sein letztes Werk, die Motetten für Chor und Streicher aus dem fragmentarischen Oratorium Die Weltalter, erschienen. Mit ihnen wird die Reihe der in den vergangenen Jahren posthum veröffentlichten Distler-Werke fortgesetzt.
Als Hugo Distler am 1. November 1942 seinem Leben aus eigenem Willen ein Ende setzte, hat er eine ganze Reihe von unveröffentlichten Werken hinterlassen. In den letzten Jahren wurde nach diesen Werken, von deren Existenz man bis dahin nur Ungefähres wusste, gesucht, und sie wurden tatsächlich gefunden, anschließend ediert und herausgegeben. Mit der Publikation von Distlers einzigem Werk für die Bühne, der Schauspielmusik zu Ludwig Tiecks Ritter Blaubart (1940), und in diesem Sommer mit der Herausgabe der Vier Motetten aus dem fragmentarischen Oratorium Die Weltalter (1942) wird deutlich, dass in seiner letzten Schaffensphase wichtige Projekte entstanden sind. Besonders die Weltalter-Motetten für gemischten Chor und Streichorchester nach einem eigenen Text zeigen eine Weiterführung des existenzialistischen Stils der beiden letzten Motetten aus der Geistlichen Chormusik op. 12. Nirgendwo sonst trifft man in seinem Werk eine derart geschärfte, auf die textliche Situation eingehende Harmonik an; in den Weltalter-Motetten begegnet man sogar dem Flüstern des Chores als einem Mittel sublimer, dramatisch eindringlicher Musikalisierung. Diese zyklisch aufführbaren vier Vokalwerke, die sich den antiken Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer widmen, bereichern das Repertoire und können von gemischten Kammerchören, großen Konzertchören oder Kantoreien aufgeführt werden. Die solistische oder chorische Besetzung der Streicher (je zwei Violinen, Violen, Violoncelli und ein Bass) orientiert sich an der Größe des Chores.
Die Schauspielmusik zu Tiecks Ritter Blaubart ist vielteilig angelegt und enthält auch einige opernhafte Nummern mit Gesang, wobei neben der Gesamtaufführung auch ausschließlich die orchestralen Sätze (u. a. vier Ouvertüren) als Suite gespielt werden können.
Ähnlich besetzt ist das dreisätzige Kammerkonzert für Cembalo und elf Soloinstrumente (1930–32), das in seinem Duktus an die Kammerkonzerte Paul Hindemiths erinnert – eine Neuinterpretation des Topos’ der Brandenburgischen Konzerte Bachs. Mit seiner lebhaften Textur stellt das Kammerkonzert eine bemerkenswerte Bereicherung des relativ schmalen Repertoires an hochrangigen Cembalokonzerten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar.
Die Publikation des Allegro spirituoso e scherzando aus dem großen Konzert für Cembalo und Streichorchester op. 14 – ohne Frage Distlers bekanntestes konzertantes Instrumentalwerk – ermöglicht nun wieder Aufführungen des gesamten Werkes in seiner ursprünglich intendierten Viersätzigkeit. In der Handschrift steht dieser Satz, der die Funktion eines Scherzos einnimmt, an dritter Stelle zwischen dem traumhaft schönen langsamen Satz und dem Variationenfinale über Samuel Scheidts altes Lied „Ei du feiner Reiter”. Mit einer Aufführungsdauer von etwa 40 Minuten nähert sich das Konzert in seiner viersätzigen Gestalt einer ausgedehnten Streichersinfonie mit obligatem konzertierendem Cembalo an. Die Stringenz der Satzfolge und auch die Architektur des gesamten Werkes tritt bei einer kompletten Wiedergabe deutlich hervor. Man darf vermuten, dass Distlers Streichung des Allegro spirituoso e scherzando nicht aus musikalischen Gründen geschah, vielmehr dürfte es sich um eine Vorsichtsmaßnahme aufgrund der impulsiven Vehemenz und der harmonischen Avanciertheit gehandelt haben, die die drei seinerzeit veröffentlichten Sätze bereits an den Rand des Verdikts der „entarteten Musik” gebracht hatten.
Michael Töpel
aus: takte 2/2008
Neues von Hugo Distler. Entdeckungen im Gedenkjahr
Hugo Distler – Ersteditionen
Kammerkonzert für Cembalo und elf Soloinstrumente (1930–32). Besetzung: 1,1,1,1 – 1,0,0,0 – V I, V II, Va I, Va II, Vc, Kb / ca. 19 Minuten. Aufführungsmaterial leihweise, Studienpartitur käuflich
Uraufführung: 28.11.1998 in Lübeck: Wiener Akademie, Solist und Leitung Martin Haselböck
Allegro spirituoso e scherzando für Cembalo und Streichorchester (Scherzo zum Konzert op. 14) (1935/36).
Besetzung: V I, V II, Va, Vc, Kb / ca. 8 Minuten. Aufführungsmaterial leihweise
Musik zu Ludwig Tiecks „Ritter Blaubart” für kleines Orchester (enthält drei Nummern mit Sopran bzw. Tenor und Cembalo) (1940).
Personen: Agnes, Anne, Brigitte (Sopran, eine Sängerin), Leopold (Tenor)
Orchester: Fl (auch Picc), Ob (auch Eh), Hn, Fag – Schlg (1) - Str - Cemb / ca. 31 Minuten. Aufführungsmaterial leihweise
Uraufführung: 29.9.2002 Neubrandenburg: Neubrandenburger Philharmonie, Leitung Stefan Malzew
Vier Motetten (1. Der Mensch und die Erde / 2. Der Mensch und das Wasser / 3. Der Mensch und die Luft / 4. Der Mensch und das Feuer) aus dem fragmentarischen Oratorium „Die Weltalter“ für gemischten Chor (SATB; Teilung in zwei 4-st Chöre und T-Solo a. d. Ch. in Nr. 3) und Streicher oder Klavier (1942). Text von Hugo Distler.
Mindestbesetzung der Streicher: 2 V, 2 Va, 2 Vc, 1 Kb / ca. 14 Minuten. Partitur mit Stimmen leihweise, Klavierauszug käuflich
Uraufführung: 24.6.2008 Lübeck: Kammerchor und Mitglieder des Orchesters der Musikhochschule Lübeck, Leitung Gerd Müller-Lorenz